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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Russland und Türkei: «Völkerrecht wird nach Belieben angewandt»

«Was nicht der westlichen Vormacht dient, wird ignoriert», erklärt der Völkerrechtler und frühere UN-Mandatsträger Alfred de Zayas.

25. Mai 2022

von Alfred de Zayas

upg. Der Aggressionskrieg von Putin-Russland gegen die Ukraine verletzt krass das Völkerrecht. Für harte Sanktionen und auch für Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung gibt es also gute Gründe. Der US-Völkerrechtler und langjährige Experte des UN-Menschenrechtsrats Alfred de Zayas kritisiert jedoch, dass Sanktionen nur erlassen und Hilfe zur Selbstverteidigung nur gewährt werden, «wenn es der westlichen Vormacht dient». Die neusten Beispiele seien der Angriffskrieg der Türkei gegen Kurdengebiete im Irak, die türkische Eroberung und Besetzung eines grossen Grenzgebiets in Nordsyrien sowie der Krieg in Jemen. In einem Interview mit «Zeitgeschehen im Fokus» nahm Zayas Stellung zum Angriff der Türkei gegen den Norden des Iraks und zum Krieg in Jemen. De Zayas ist auch Mitglied von Amnesty International und gilt als radikaler Verfechter des Völkerrechts und Verteidiger der Rechte von Minderheiten.

«Die Türkei hat das Völkerrechts zweifellos verletzt»

«Zweifellos hat die Türkei Artikel 1 und 2 der UN-Charta verletzt […]. Zweifelsohne stellt die türkische Aggression eine ernste Verletzung der Nürnberger Prinzipien und des Artikels 6(a) des Statuts des Nürnberger Tribunals dar […]. Die Angriffe sind so offensichtlich illegal, dass der UN-Generalsekretär António Guterres und die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte an den UN-Sicherheitsrat appellieren sollten, um den Angriff zu verurteilen und eine Resolution gemäss Artikel 39 der Charta zu verabschieden. Hinzu kommen die Verletzungen der Genfer Rotkreuzkonventionen von 1949 und der Protokolle von 1977.» «Auf keinen Fall kann man sich auf Selbstverteidigung berufen, wenn es um den legitimen Kampf der Völker um ihre Selbstbestimmung geht […]. Der türkische Einmarsch stellt eine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne des Artikels 39 der UN-Charta dar. Der UN-Sicherheitsrat hätte eine Sondersitzung einberufen sollen und Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei auferlegen können, genauso wie die Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika und Rhodesien in den 70er Jahren, als beide Länder die Rechte der afrikanischen Mehrheit verletzten.» «Es ist offensichtlich, dass das kurdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Etliche Resolutionen der UN-Generalversammlung bestätigen das Recht aller Völker, für die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechtes zu kämpfen. Gewaltanwendung durch die Kurden ist kein Terrorismus, sondern eine legitime Selbstverteidigung gegen die türkische Unterjochung und ungerechte Herrschaft. Dieses Recht auf Selbstbestimmung ist in Artikel 1 und 55 der UN-Charta sowie auch im Artikel 1 des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert […]. Der Westen ist mitschuldig für die mehr als 100-jährige Unterjochung des kurdischen Volkes. So scheren sich die USA, England, Frankreich, Deutschland keinen Deut um die Rechte der Kurden, der Palästinenser oder der Jemeniten.»

«Die Europäer lassen sich erpressen»

«Die Türkei hat zweifellos ein Recht auf Sicherheit, gleich wie auch Russland. Die Nato verweigert Russland dieses Recht. Die Türkei könnte dieses Recht auf längere Sicht wahren, wenn sie das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung akzeptieren würde.» «Erdogan erpresst Europa am laufenden Band. Und die Europäer lassen sich erpressen. Es ist ein Skandal, dass keine UN-Sanktionen gegen die Türkei auferlegt worden sind. Aber wenn ein Resolutionsentwurf vor den UN-Sicherheitsrat käme, so würden die USA und Grossbritannien sicher ein Veto einlegen.»

«Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit»

«Auch der Jemen ist ein Beispiel dafür, wie das Völkerrecht und die Menschenrechte à la carte wahrgenommen werden. Leider ist kaum eine ‹Empörung› hörbar seitens der UN-Institutionen, seitens António Guterres und Michelle Bachelet […]. In Jemen herrscht die grösste humanitäre Krise in der heutigen Welt. Eine künstliche Krise, ein Stellvertreterkrieg mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Hier sind die Medien mitschuldig, denn sie erfüllen ihre Informationspflicht nicht. Und wenn sie informieren, dann meist mit ‹Verständnis› für die Interessen Saudi-Arabiens und der USA. Die Medien spielen sich als ‹Saudi-Versteher› auf, was von der grossen Mehrheit der Leser gar nicht negativ empfunden wird – ganz anders mit der Bezeichnung ‹Putin-Versteher›, die stets abwertend wirkt.

«Man kann sich nur empören, wenn man informiert ist»

«Empören kann man sich erst, wenn man informiert ist. Die ­Medien verschweigen weitgehend, was den geopolitischen Interessen Washingtons und Brüssels nicht dient. Die Medien berichten nur wenig über die türkischen und israelischen Angriffe auf Syrien oder über die Gräueltaten Saudi-Arabiens in Jemen.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Weiterführende Informationen

Alfred de Zayas

ist ein US-amerikanischer Völkerrechtler, Historiker, Sachbuchautor und ehemaliger UN-Beamter. Von Mai 2012 bis April 2018 war er Unabhängiger Experte des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung.

 

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