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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Der Verursacher des Ukraine-Kriegs – eine Auslegeordnung

Der Imperialist Putin, der die ganze Ukraine einverleiben will. Oder der Westen, der die Nato auf die Ukraine ausdehnen wollte?

21. September 2024

Gastbeitrag von John J. Mearsheimer

Die Antwort auf diese Frage – Imperialist Putin oder Ausdehnung der Nato – ist äusserst wichtig, denn der Krieg ist eine Katastrophe. Die Ukraine wird faktisch zerstört. Das Land verlor einen beträchtlichen Teil seines Territoriums und wird möglicherweise noch mehr verlieren. Seine Wirtschaft liegt in Trümmern. Mehrere Millionen Ukrainer sind Binnenvertriebene oder aus dem Land geflohen. 

Bisher hat es Hunderttausende von Toten und Verletzten gegeben. Russland hat wohl einen noch höheren Blutzoll zu tragen. 

Auf der strategischen Ebene werden die Beziehungen zwischen Russland und Europa – ganz zu schweigen zwischen Russland und der Ukraine – auf absehbare Zeit vergiftet sein. Deshalb bleibt die Gefahr eines grossen Krieges in Europa noch lange bestehen, selbst wenn sich der Ukraine-Krieg zu einem eingefrorenen Konflikt entwickeln sollte. 

Wer die Verantwortung für diese Katastrophe trägt, wird wahrscheinlich noch lange diskutiert. Die Frage wird uns noch stärker beschäftigen, wenn immer mehr Menschen realisieren, welches Ausmass diese Katastrophe hat.

«Putin ist allein verantwortlich, weil er ein Imperialist ist»   

Nach der am meisten verbreiteten Meinung im Westen ist Wladimir Putin für den Ukraine-Krieg allein verantwortlich. Die Invasion ziele darauf ab, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines Grossrusslands zu machen. Sobald dieses Ziel erreicht sei, würden sich die Russen daranmachen, ein Imperium in Osteuropa zu errichten, ähnlich wie es die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg tat. 

Damit sei Putin eine Bedrohung für den Westen und müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Kurz gesagt, Putin sei ein Imperialist mit einem Masterplan, der sich nahtlos in eine reiche russische Tradition einfüge.


«Die USA und der Westen sind hauptverantwortlich, weil sie die Ukraine in die Nato aufnehmen wollen»

Die andere Sichtweise, mit der ich mich identifiziere, ist im Westen eine Minderheitsmeinung: 

Russland ist in die Ukraine einmarschiert und hat den Krieg begonnen.  Doch die USA und ihre Verbündeten haben den Krieg provoziert. 

Die Hauptursache des Konflikts ist der Entscheid der Nato, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Fast alle russischen politischen Führer sehen diese Absicht als existenzielle Bedrohung an, die beseitigt werden muss. 

Die Nato-Erweiterung ist Teil einer umfassenderen Strategie der USA, welche die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland machen will.

Die beiden anderen Strategien dieser Politik bestanden darin, in der Ukraine eine friedliche Farbrevolution zu fördern – sie in eine prowestliche liberale Demokratie zu verwandeln – sowie die Ukraine in die EU zu bringen. 

Die russische Führung fürchtet alle drei Strategien. Aber am meisten fürchtet sie die Nato-Erweiterung. Um dieser Bedrohung zu begegnen, hat Russland am 24. Februar 2022 einen Präventivkrieg begonnen.

Die Debatte über die Ursachen des Ukraine-Krieges heizte sich auf, als zwei prominente westliche Politiker – der ehemalige Präsident Donald Trump und der britische Parlamentsabgeordnete Nigel Farage – argumentierten, dass die Nato-Erweiterung die treibende Kraft hinter dem Konflikt sei. Die Verteidiger der konventionellen Meinung reagierten sofort mit einem Gegenangriff.

Was besonders bemerkenswert ist: Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat im vergangenen Jahr zweimal erklärt:

«Präsident Putin hat diesen Krieg begonnen, weil er die Tür für die Nato schliessen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu gehen».

Diese klare Feststellung des Nato-Chefs löste im Westen kaum Widerspruch aus. Stoltenberg selbst nahm seine Äusserungen nicht zurück.

Im Folgenden seien die wichtigsten Fakten und Argumente dargelegt, welche die Ansicht stützen, dass Putin nicht in die Ukraine einmarschiert ist, weil er ein Imperialist ist, der die Ukraine zu einem Teil eines Grossrusslands machen wollte, sondern vor allem wegen der Nato-Erweiterung und der Bemühungen des Westens, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der russischen Grenze zu machen.

Sieben Gründe, weshalb Putin nicht als Imperialist und Träumer eines Grossrusslands in die Ukraine einmarschiert ist

Erstens: Es gibt keine Beweise aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022, dass Putin die Ukraine erobern und sie in Russland eingliedern wollte. Befürworter der gängigen Meinung können auf nichts verweisen, was Putin geschrieben oder gesagt hat, das darauf hindeutet, dass er entschlossen war, die Ukraine zu erobern.

Die Verfechter der gängigen Meinung liefern Argumente, die wenig oder gar nichts mit Putins Motiven für den Einmarsch in die Ukraine zu tun haben. Einige betonen beispielsweise, dass er sagte, die Ukraine sei ein «künstlicher Staat» oder kein «echter Staat». Solche Zitate sagen nichts aus über seinen Grund aus, in den Krieg zu ziehen. Das Gleiche gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als «ein Volk» mit einer gemeinsamen Geschichte. 

Andere weisen darauf hin, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion als «die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts» bezeichnet habe. Putin sagte aber auch: «Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Gehirn.»

Wieder andere verweisen auf eine Rede, in der er erklärte, dass «die moderne Ukraine vollständig von Russland oder, um genauer zu sein, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland geschaffen» worden sei. Auch das ist kaum ein Beweis dafür, dass er an der Eroberung der Ukraine interessiert war. Zudem sagte er in derselben Rede: «Natürlich können wir die Ereignisse der Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich zugeben.»

Um zu beweisen, dass Putin entschlossen war, die gesamte Ukraine zu erobern und sie in Russland einzugliedern, muss man den Beweis erbringen, dass er 

  1. dies für ein erstrebenswertes Ziel hielt, 
  2. es für ein machbares Ziel hielt und 
  3. beabsichtigte, dieses Ziel zu verfolgen. 

Es gibt keine öffentlich zugänglichen Indizien dafür, dass Putin erwog, der Ukraine als unabhängigem Staat ein Ende zu setzen und sie zu einem Teil Grossrusslands zu machen, als er am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine schickte.

Vielmehr gibt es signifikante Indizien, dass Putin die Ukraine als unabhängiges Land anerkannt hat. 

In seinem Artikel vom 12. Juli 2021, der sich mit den russisch-ukrainischen Beziehungen befasst, und der den Befürworter der gängigen Meinung oft als Beweis für seine imperialen Ambitionen anführen, sagt er dem ukrainischen Volk: «Ihr wollt einen eigenen Staat errichten: Ihr seid willkommen!» Auf die Frage, wie Russland mit der Ukraine umgehen sollte, schreibt er: «Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.» Er schliesst diesen langen Artikel mit den folgenden Worten: «Und was die Ukraine sein wird – das müssen ihre Bürger entscheiden.» Diese Aussagen stehen in direktem Widerspruch zu der Behauptung, Putin habe die Ukraine in ein Grossrussland eingliedern wollen.

In demselben Artikel vom 12. Juli 2021 und erneut in einer wichtigen Rede, die er am 21. Februar 2022 hielt, erklärte Putin, dass Russland «die neue geopolitische Realität, die nach der Auflösung der UdSSR Gestalt angenommen hat», akzeptiere. 

Denselben Punkt wiederholte er am 24. Februar 2022 ein drittes Mal, als er ankündigte, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde. Insbesondere erklärte er, dass «es nicht unser Plan ist, ukrainisches Territorium zu besetzen», und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere, wenn auch nur bis zu einem gewissen Punkt: «Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich entwickeln und existieren, wenn es einer ständigen Bedrohung auf dem Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt ist.»

Diese Aussagen legen nahe, dass Putin nicht daran interessiert war, die Ukraine zu einem Teil Russlands zu machen. Er war jedoch daran interessiert, dass sie nicht Mitglied der Nato und zu einem «Sprungbrett» für eine westliche Aggression gegen Russland werden kann.

Zweitens: Es gibt keine Indizien dafür, dass Putin eine Marionettenregierung für die Ukraine vorbereitete, prorussische Führer in Kiew förderte oder politische Massnahmen einleitete, die es ermöglicht hätten, das gesamte Land zu besetzen und es schliesslich Russland einzugliedern.

Diese Tatsachen stehen im Widerspruch zur Behauptung, Putin habe die Ukraine von der Landkarte tilgen wollen.

DrittensPutin hatte nicht annähernd genug Truppen, um die Ukraine zu erobern.

Beginnen wir mit den Gesamtzahlen. Ich habe lange geschätzt, dass die Russen mit höchstens 190’000 Soldaten in die Ukraine einmarschierten. General Oleksandr Syrskyj, der derzeitige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sagte jedoch kürzlich in einem Interview mit dem «Guardian», dass Russlands Invasionstruppen nur 100’000 Mann stark gewesen seien. 

Tatsächlich nannte der «Guardian» die gleiche Zahl vor Kriegsbeginn. Es ist aber unmöglich, dass eine Streitmacht in einer Grössenordnung von 100’000 oder selbst 190’000 Mann die gesamte Ukraine erobern, besetzen und in ein Grossrussland eingliedern könnte.

Als Deutschland im September 1939 in die westliche Hälfte Polens einmarschierte, zählte die Wehrmacht etwa 1,5 Millionen Mann. Die Ukraine ist aber geografisch mehr als dreimal grösser als die westliche Hälfte Polens im Jahr 1939, und die Ukraine hatte im Jahr 2022 fast doppelt so viele Einwohner wie Polen beim Einmarsch der Deutschen. 

Wenn wir General Syrskyjs Schätzung akzeptieren, dass im Jahr 2022 100’000 russische Soldaten in die Ukraine einmarschierten, bedeutet das, dass Russland über eine Invasionstruppe verfügte, die ein Fünfzehntel so gross war wie die deutschen Truppen, die in Polen einmarschiert waren. Und diese kleine russische Armee marschierte in ein Land ein, das sowohl in Bezug auf die territoriale Grösse als auch auf die Einwohnerzahl viel grösser war als Polen.

Nicht mit der Wehrmacht vergleichbar

Abgesehen von den Zahlen ist da noch die Frage nach der Qualität der russischen Armee. Zunächst einmal handelte es sich um eine Streitmacht, die hauptsächlich dazu gedacht war, Russland vor einer Invasion zu schützen. Es war keine Armee, die darauf vorbereitet war, eine grosse Offensive zu starten, die am Ende die gesamte Ukraine erobern und geschweige denn den Rest Europas bedrohen könnte. 

Darüber hinaus liess die Qualität der Kampftruppen zu wünschen übrig, da die Russen nicht mit einem Krieg gerechnet hatten, als sich die Krise im Frühjahr 2021 zuspitzte. Daher hatten sie wenig Möglichkeiten, eine schlagkräftige Invasionstruppe aufzustellen. Sowohl qualitativ als auch quantitativ waren die russischen Invasionstruppen nicht annähernd gleichwertig mit der deutschen Wehrmacht in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren.

Moskau wusste um die Aufrüstung der ukrainischen Armee

Man könnte argumentieren, dass die russische Führung dachte, dass das ukrainische Militär so klein und so unterlegen sei, dass seine Armee die ukrainischen Streitkräfte leicht besiegen und das ganze Land erobern könnte. Putin und seine Generäle wussten aber sehr genau, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten das ukrainische Militär seit dem Ausbruch der Krise am 22. Februar 2014 bewaffnet und ausgebildet hatten. 

Moskaus grosse Angst war, dass die Ukraine de facto Mitglied der Nato werden könnte. Darüber hinaus beobachtete die russische Führung, wie die ukrainische Armee zwischen 2014 und 2022 effektiv im Donbas kämpfte. Sie haben gewusst, dass das ukrainische Militär kein Papiertiger ist, der schnell und entscheidend besiegt werden kann, zumal es mächtig vom Westen unterstützt wird.

Baldiger Rückzug auf Verteidigungspositionen

Im Laufe des Jahres 2022 waren die Russen schliesslich gezwungen, ihre Armee aus dem Gebiet Charkiw und aus dem westlichen Teil des Gebiets Cherson wieder abzuziehen. In der Tat gab Moskau Gebiete auf, die seine Armee in den ersten Tagen des Krieges erobert hatte. 

Es steht ausser Frage, dass der Druck der ukrainischen Armee eine Rolle spielte bei der Erzwingung des russischen Rückzugs. Aber wichtiger war, dass Putin und seine Generäle erkannten, dass sie nicht einmal über genügend Kräfte verfügten, um das Territorium zu halten, das ihre Armee bei Charkiw und Cherson erobert hatte. Also zogen sie sich zurück und schufen überschaubarere Verteidigungspositionen. 

Das ist kaum das Verhalten, das man von einer Armee erwarten würde, die aufgebaut und ausgebildet wurde, um die gesamte Ukraine zu erobern und zu besetzen. Sie wurde nicht für diesen Zweck konzipiert und hätte daher diese Herkulesaufgabe nicht erfüllen können.

Viertens: Putin versuchte in den Monaten vor Kriegsbeginn, eine diplomatische Lösung für die Krise zu finden, die sich zusammenbraute.

Am 17. Dezember 2021 schickte Putin einen Vertragsentwurf an Präsident Joe Biden und Nato-Chef Jens Stoltenberg, in dem er eine Lösung der Krise auf der Grundlage einer schriftlichen Garantie vorschlug, dass 

  1. die Ukraine nicht der Nato beitreten würde, 
  2. keine Offensivwaffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert würden und 
  3. Nato-Truppen und -Ausrüstung, die seit 1997 nach Osteuropa verlegt worden war, nach Westeuropa zurückverlegt würden. 

Diese Forderungen wollten die USA als Grundlage von Verhandlungen nicht akzeptieren und lehnten Gespräche darüber ab. Die Forderungen zeigen aber, dass Putin versuchte, einen Krieg zu vermeiden.

Der damalige Nato-Generalsekretär am 7. September 2023 vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments:

«President Putin declared in the autumn of 2021, and actually sent a draft treaty that they wanted NATO to sign, to promise no more NATO enlargement. That was what he sent us. And was a pre-condition for not invade Ukraine. Of course we didn’t sign that.»

Fünftens: Unmittelbar nach Kriegsbeginn wandte sich Russland an die Ukraine, um Verhandlungen zur Beendigung des Krieges aufzunehmen und einen Modus Vivendi zwischen den beiden Ländern auszuarbeiten.

Nur vier Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine begannen die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau in Belarus. Die Verhandlungen in Weissrussland wurden schliesslich durch israelische und Istanbuler Bemühungen ersetzt. Alle verfügbaren Indizien deuten darauf hin, dass Russland ernsthaft verhandelte und nicht daran interessiert war, ukrainisches Territorium zu erobern, mit Ausnahme der Krim, die 2014 annektiert worden war, und möglicherweise des Donbas.

Die Verhandlungen wurden beendet, als die Ukrainer auf Drängen Grossbritanniens und der USA die Verhandlungen, die gute Fortschritte gemacht hatten, scheitern liessen. Darüber hinaus berichtete Putin, dass er während der fortgeschrittenen Verhandlungen gebeten wurde, die russischen Truppen als Geste des guten Willens aus dem Gebiet um Kiew abzuziehen, was er am 29. März 2022 auch tat.

Weder eine Regierung im Westen noch ein damals beteiligte Politiker stellten diese Behauptung Putins in Frage. Sie stehen in direktem Widerspruch zur Behauptung, Putin sei entschlossen gewesen, die gesamte Ukraine zu erobern.

Sechstens: Abgesehen von der Ukraine gibt es nicht den geringsten Beweis dafür, dass Putin die Eroberung anderer Länder in Osteuropa je in Erwägung zog.

Die russische Armee war nicht gross genug, um die gesamte Ukraine einzunehmen, geschweige denn zu versuchen, die baltischen Staaten, Polen und Rumänien zu erobern. Zudem sind alle diese Länder Mitglieder der Nato, was mit ziemlicher Sicherheit einen Krieg mit den USA und ihren Verbündeten bedeuten würde.

Siebtens: Bis zum Beginn der Ukraine-Krise am 22. Februar 2014 hatte kaum jemand im Westen behauptet, Putin habe imperiale Ambitionen gehabt, als er im Jahr 2000 die Macht übernahm.

Erst nach 2014 wurde Putin dann plötzlich zu einem imperialen Aggressor. Warum? Weil die westlichen Staats- und Regierungschefs einen Grund brauchten, um ihm die Schuld für die Krise in die Schuhe zu schieben.

Der wahrscheinlich beste Beweis dafür, dass Putin in seinen ersten vierzehn Jahren im Amt nicht als ernsthafte Bedrohung angesehen wurde, ist die Tatsache, dass er im April 2008 als geladener Gast beim Nato-Gipfel in Bukarest teilnehmen konnte. Bei diesem Gipfel kündigte das Bündnis an, die Ukraine und Georgien eines Tages in die Nato aufnehmen zu wollen. Putin war erbost und machte seinem Ärger Luft.

Aber seinen Widerstand nahm Washington nicht ernst, weil Russlands Militär als viel zu schwach eingeschätzt wurde, um die weitere Nato-Erweiterung zu stoppen – so wie es zu schwach gewesen war, um die Nato-Expansionswellen von 1999 und 2004 aufzuhalten. Der Westen dachte, er könne Russland erneut dazu zwingen, auch diese Nato-Erweiterung zu schlucken.

Für den Westen gab es vor dem 22. Februar 2014 keinen Grund, die Nato gegen Osten weiter auszudehnen, um Russland einzudämmen. Angesichts des damaligen traurigen Zustands der russischen Militärmacht war Moskau nicht in der Lage, die Ukraine zu erobern, geschweige denn eine revanchistische Politik in Osteuropa zu verfolgen.

Die Krim war eine Reaktion auf den Putsch in Kiew

Bezeichnenderweise erklärte der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, der ein entschiedener Verteidiger der Ukraine und ein scharfer Kritiker Putins war, dass die Besetzung der Krim vor Ausbruch der Krise im Jahr 2014 nicht geplant war. Sie sei eine Reaktion auf den Putsch gewesen, der den prorussischen Führer der Ukraine, Viktor Janukowitsch, gestürzt hatte.

Neue westliche Rhetorik nach dem Machtwechsel in Kiew

Kurz: Die Nato-Erweiterung auf die Ukraine war geplant, obwohl damals von Russland keine Bedrohung ausging. Erst als im Februar 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begannen die USA und ihre Verbündeten plötzlich, Putin als gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als ernsthafte militärische Bedrohung zu beschreiben, die die Nato eindämmen müsse.

Diese abrupte Wende in der Rhetorik sollte nur einem wesentlichen Zweck dienen: Putin die Schuld an der Krise zu geben und den Westen von der Verantwortung freizusprechen. Es überrascht nicht, dass die Imperialismus-Behauptung seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wie ein Mantra verbreitet wird.

«Expansionismus in der russischen DNA»

Es gibt eine weitere Argumentationslinie im Westen, die es wert ist, erwähnt zu werden. Einige sagen, dass Moskaus Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, wenig mit Putin selbst zu tun habe, sondern Teil einer expansionistischen Tradition sei, die lange vor Putin bestanden habe und tief in der russischen Gesellschaft verankert sei.

Dieser Hang zur Aggression, von dem man sagt, dass er von internen gesellschaftlichen Kräften – und nicht von Russlands äusserer Bedrohungslage – hervorgerufen wird, habe im Laufe der Zeit praktisch alle russischen Führer dazu veranlasst, sich gegenüber ihren Nachbarn gewalttätig zu verhalten.

Es wird Putin nachgesagt, dass er wenig Handlungsspielraum hatte. Fast jeder andere russische Führer hätte genauso gehandelt. Den Russen wird nachgesagt, sie seien schon immer aggressiv gewesen – egal wer das Sagen hat – und würden es immer bleiben. Es ist fast so, als ob ein imperialistischer Trieb ihrer DNA eingeschrieben sei.

Dieselbe DNA wurde einst den Deutschen zugeschrieben. Sie wurden im 20. Jahrhundert oft als ein Volk mit angeborenen Aggressionen dargestellt. Argumente dieser Art werden aber in der akademischen Welt mit gutem Grund nicht ernst genommen.

Darüber hinaus hat zwischen 1991 und 2014, bevor die Ukraine-Krise ausbrach, in den USA oder Westeuropa kaum jemand gesagt, Russland sei von Natur aus aggressiv.

Ausserhalb Polens und der baltischen Staaten war die Angst vor einer russischen Aggression in diesen 24 Jahren auch nicht existent. Diese Sorge wäre auch in anderen europäischen Ländern zu erwarten gewesen, falls die Russen auf Aggression angelegt wären.

Es scheint deshalb klar zu sein, dass das plötzliche Auftauchen dieser Argumentation eine bequeme Ausrede war und ist, um Russland für den Ukraine-Krieg verantwortlich zu machen.



«Die Nato-Erweiterung ist die Hauptursache für den Ukraine-Krieg»

Es gibt drei wichtige Gründe für die Annahme, dass die Nato-Erweiterung die Hauptursache für den Ukraine-Krieg ist.

Erstens: Vor Beginn des Kriegs hat die russische Führung wiederholt erklärt, dass sie die Nato-Erweiterung in die Ukraine als existenzielle Bedrohung betrachtet, die beseitigt werden müsse. Putin gab vor dem 24. Februar 2022 zahlreiche öffentliche Erklärungen ab, in denen er diese Argumentation darlegte.

In einer Rede vor dem Vorstand des Verteidigungsministeriums am 21. Dezember 2021 erklärte er:

«Was sie in der Ukraine tun oder versuchen oder planen, geschieht nicht Tausende von Kilometern von unserer Landesgrenze entfernt. Es liegt vor der Tür unseres Hauses. Sie müssen verstehen, dass wir einfach nirgendwo anders hingehen können. Glauben sie wirklich, dass wir diese Bedrohungen nicht sehen? Oder glauben sie, dass wir einfach tatenlos zusehen werden, wie diese Bedrohung für Russland entsteht?»

Zwei Monate später sagte Putin auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022, nur wenige Tage vor Kriegsbeginn:

«Wir sind kategorisch gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt, und wir haben Argumente, die dies verständlich machen. Ich habe in diesem Saal wiederholt darüber gesprochen.»

Dann machte er deutlich, dass die Ukraine im Begriff ist, de facto Mitglied der Nato zu werden. Die USA und ihre Verbündeten, sagte er, «pumpen die derzeitigen Behörden in Kiew weiterhin mit modernen Waffentypen voll». Das sei «völlig inakzeptabel». Er fuhr fort, dass, wenn dies nicht gestoppt würde, Moskau «ein bis an die Zähne bewaffnetes Anti-Russland gegenüberstehen würde». 

Auch andere russische Staats- und Regierungschefs – darunter der Verteidigungsminister, der Aussenminister, der stellvertretende Aussenminister und der russische Botschafter in Washington – betonten die zentrale Bedeutung der Nato-Erweiterung für die Ursache der Ukraine-Krise. Aussenminister Sergej Lawrow brachte dies auf einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 auf den Punkt: «Der Schlüssel zu allem ist die Garantie, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnt.»

«Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis»

Oft hört man das Argument, dass selbst wenn die Ukraine dem Bündnis beitreten würde, dies für Russland keine existenzielle Bedrohung wäre, denn die Nato sei ein Verteidigungsbündnis. Deshalb könne die Nato-Erweiterung kein Grund für den Krieg sein, der im Februar 2022 begann. Abgesehen davon sei eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine noch in weiter Ferne gewesen.

Diese Argumentation ist falsch. Der Westen reagierte auf die Ereignisse von 2014, indem er die Ukraine noch näher an die Nato heranführte. Ab 2014 begann das Bündnis, das ukrainische Militär auszurüsten und auszubilden. Die Nato hat in den folgenden acht Jahren jährlich durchschnittlich 10’000 ukrainische Soldaten ausgebildet. 

Im Dezember 2017 beschloss die Trump-Regierung, Kiew mit «Verteidigungswaffen» zu beliefern. Andere Nato-Länder schalteten sich bald ein und lieferten noch mehr Waffen in die Ukraine. Darüber hinaus begannen die ukrainische Armee, Marine und Luftwaffe mit der Teilnahme an gemeinsamen Militärübungen mit den Nato-Streitkräften. 

Die Bemühungen des Westens, das ukrainische Militär zu bewaffnen und auszubilden, erklären zu einem guten Teil, warum es im ersten Kriegsjahr so erfolgreich gegen die russische Armee war. Das «Wall Street Journal» vom April 2022 verbreitete die Schlagzeile: «Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahre der Nato-Ausbildung.»

Abgesehen von den anhaltenden Bemühungen der Nato, das ukrainische Militär zu einer eindrucksvollen Kampftruppe aufzubauen, die auf Seite der Nato-Truppen operieren könnte, gab es im Westen im Jahr 2021 erneut begeisterte Unterstützung für die Aufnahme der Ukraine in die Nato. Zuvor hatte Präsident Selensky in der Öffentlichkeit nie viel Enthusiasmus gezeigt für die Aufnahme der Ukraine in das Nato-Bündnis. Im März 2019 war er mit einem Programm gewählt worden, die Krise mit Russland beizulegen. Doch Anfang 2021 änderte er seinen Kurs und befürwortete nicht nur die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern nahm auch eine harte Linie gegenüber Moskau ein.

Präsident Biden, der im Januar 2021 ins Weisse Haus einzog, hatte sich seit langem dafür eingesetzt, die Ukraine in die Nato zu bringen. Er war ein Superfalke gegenüber Russland. Es überraschte deshalb nicht, dass die Nato am 14. Juni 2021 auf ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel ein Communiqué veröffentlichte, in dem es hiess:

«Wir bekräftigen die auf dem Bukarester Gipfel 2008 getroffene Entscheidung, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird.»

Am 1. September 2021 besuchte Selensky das Weisse Haus, wo Biden klarstellte, dass die USA «fest entschlossen» seien, «die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine» zu unterstützen. Am 10. November 2021 unterzeichneten Aussenminister Antony Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument: die «US-Ukraine Charter on Strategic Partnership». Das Ziel beider Parteien, so heisst es in dem Dokument sei «ein Bekenntnis zur Umsetzung der vertieften und umfassenden Reformen zu unterstreichen, die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind». Blinken bekräftigte auch ausdrücklich das Bekenntnis der USA zur «Bukarester Gipfelerklärung von 2008».

Es scheint kaum Zweifel daran zu geben, dass die Ukraine auf dem besten Weg war, bald Mitglied der Nato zu werden. Befürworter dieser Politik argumentierten, Moskau hätte sich über dieses Ergebnis keine Sorgen machen müssen, denn «die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar». 

Doch das entspricht nicht der russischen Sicht der Nato. Und es kommt darauf an, wie Putin und andere massgebliche russische Kreise eine Nato vor ihrer Grenze sehen. Kurz: Es steht ausser Frage, dass Moskau den Nato-Beitritt der Ukraine als existenzielle Bedrohung sah, die nicht hingenommen werden durfte.

[Red. Die Nato oder die USA versuchten schon mehrere Male mit grossem militärischem Einsatz, autoritäre und feindliche Regierungen zu stürzen: in Afghanistan, Irak, Libyen oder Serbien.]

Zweitens: Eine beträchtliche Zahl einflussreicher und hoch angesehener Personen im Westen hatte lange vor dem Krieg erkannt, dass die Nato-Erweiterung – insbesondere um die Ukraine – von der russischen Führung als tödliche Bedrohung angesehen werde und schliesslich in eine Katastrophe führen könne.

William Burns, der heute die CIA leitet, aber zum Zeitpunkt des Nato-Gipfels in Bukarest im April 2008 US-Botschafter in Moskau war, schrieb ein Memo an die damalige Aussenministerin Condoleezza Rice, in dem er kurz und bündig beschreibt, wie Russland über die Aufnahme in die Nato gedacht hat. 

Im seinem Memo heisst es:

«Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist die hellste aller roten Linien für die russische Elite (nicht nur für Putin). In Gesprächen über mehr als zweieinhalb Jahre mit wichtigen russischen Akteuren, von den sogenannten Knickerbocker-Trägern in den dunklen Winkeln des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden getroffen, der die Aufnahme der Ukraine in der Nato als etwas anderes als eine direkte Herausforderung für russische Interessen ansieht.»

Die Aufnahme der Ukraine in die Nato, schrieb er, «würde angesehen werden […] als würde man ihnen den strategischen Fehdehandschuh hinwerfen. Das heutige Russland wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen werden auf Eis gelegt […] Es wird einen fruchtbaren Boden für die russische Einmischung auf der Krim und in der Ostukraine schaffen».

Burns war nicht der einzige westliche Politiker im Jahr 2008, der erkannte, dass die Aufnahme der Ukraine in die Nato mit Gefahren verbunden war. Auf dem Bukarester Gipfel sprachen sich sowohl die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aus, weil sie verstanden hatten, dass dies Russland alarmieren würde. Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung: «Ich war mir sehr sicher, dass Putin das nicht einfach so zulassen würde. Das wäre aus seiner Sicht eine Kriegserklärung gewesen.»

Um noch einen Schritt weiter zurück zu gehen: Zahlreiche US-Politiker und Strategen in den 1990er Jahren waren gegen die Entscheidung von Präsident Clinton, die Nato zu erweitern, als diese Entscheidung diskutiert wurde. Diese Gegner glaubten von Anfang an, dass die russische Führung dies als Bedrohung für ihre vitalen Interessen ansehen und dass diese Politik schliesslich zu einer Katastrophe führen würde. 

Die Liste der Gegner umfasst prominente Persönlichkeiten des Establishments wie George Kennan, Präsident Clintons Verteidigungsminister William Perry und seinen Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, General John Shalikashvili, Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige von ihnen zu nennen.

[Red. 1997 wandten sich 50 hochrangige amerikanische Aussenpolitik-Experten in einem offenen Brief an Präsident Clinton und rieten ihm, die Nato nicht zu erweitern. Sie bezeichneten die Nato-Erweiterung als «einen politischen Fehler von historischem Ausmass».]

Putins Position sollte für die USA verständlich sein

Die Logik von Putins Position sollte für die Amerikaner durchaus verständlich sein. Denn die USA haben sich seit langem der Monroe-Doktrin verschrieben, die besagt, dass es keiner fernen Grossmacht erlaubt ist, ein Bündnis mit einem Land der westlichen Hemisphäre einzugehen und dort ihre Streitkräfte zu stationieren. Die USA würden einen solchen Schritt als existenzielle Bedrohung interpretieren und grosse Anstrengungen unternehmen, um diese Gefahr zu beseitigen. 

Das geschah natürlich während der Kubakrise im Jahr 1962, als Präsident Kennedy den Sowjets klarmachte, dass ihre nuklear bestückten Raketen aus Kuba abgezogen werden müssten. Putin ist von der gleichen Logik beeinflusst. Schliesslich wollen Grossmächte nicht, dass ferne Grossmächte in ihren Hinterhof einziehen.

Drittens: Wie stark verankert Russlands Angst vor einem Nato-Beitritt der Ukraine ist, verdeutlichen zwei Entwicklungen, die sich seit Beginn des Krieges ereignet haben. Während der Istanbul-Verhandlungen, die unmittelbar nach Beginn der Invasion stattfanden, machten die Russen unmissverständlich klar, dass die Ukraine eine «dauerhafte Neutralität» akzeptieren müsse und nicht der Nato beitreten könne. Die Ukrainer akzeptierten die Forderung Russlands ohne ernsthaften Widerstand, sicherlich weil sie wussten, dass es sonst unmöglich war, den Krieg zu beenden. 

In jüngerer Zeit, am 14. Juni 2024, formulierte Putin zwei Forderungen, die die Ukraine erfüllen müsse, bevor er einem Waffenstillstand und der Aufnahme von Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zustimme. Eine dieser Forderungen war, dass Kiew «offiziell» erklärt, «dass es seine Pläne für einen Nato-Beitritt aufgibt».

All dies ist nicht überraschend, da Russland die Ukraine in der Nato immer als eine existenzielle Bedrohung ansah, die um jeden Preis verhindert werden muss. Diese Logik ist die treibende Kraft hinter dem Ukraine-Krieg. Schliesslich wird aus der Verhandlungsposition Russlands in Istanbul sowie aus Putins Äusserungen zur Beendigung des Krieges in seiner Rede vom 14. Juni 2014 auch klar, dass er nicht daran interessiert ist, die gesamte Ukraine zu erobern und sie zu einem Teil eines Grossrusslands zu machen. 

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Dieser Beitrag erschien am 5. August 2024 auf dem AutorInnen-Portal Substack.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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(upg.) Professor John J. Mearsheimer

… lehrt seit 1982 Politikwissenschaften an der University of Chicago. Ein Gastbeitrag. Übersetzung von Infosperber. Zwischentitel von der Redaktion.

 

 

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