Kataloniens Unabhängigkeitserklärung und Madrids Justizmängel

Über die eklatanten Mängel der spanischen Justiz:

06. November 2017

von Elmar Widder

Die Tage, an denen intensiv über die katalanische Unabhängigkeitserklärung in den Medien berichtet wurde, scheinen zunächst einmal vorbei zu sein. Es geht eher um große Schlagzeilen: Wird Puigdemont ausgeliefert und wird er rein metaphorisch betrachtet „den Löwen zum Fraß vorgeworfen“? Einige katalanische Regierungsmitglieder wurden ja bereits schon festgenommen. Die Frage ist nur, ob ihre Verhaftungen auch recht- und verhältnismäßig waren bzw. ob die Haftbefehle überhaupt von den zuständigen Behörden erlassen wurden. Ich informiere Sie heute über grobe Fehler der spanischen Generalstaatsanwaltschaft, die mit „harter Hand“ gegen die rechtmäßig gewählten katalanischen Regierungs- und Parlamentsvertreter auf Grund deren Unabhängigkeitserklärung vorging.

Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union

Das Recht auf Freiheit und die Tatsache, dass wir nicht zu unrecht verhaftet werden wollen, betrifft alle EU-Bürger – vor allem auch deshalb, weil wir gemeinsame demokratische Werte teilen, oder? Wie heißt es so schön im Artikel 2 des EUV:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen. […]

Zur Situation

Der seines Amtes enthobene katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont befindet sich derzeit in Brüssel und hatte sich dort den Behörden gestellt, ebenso wie die vier enthobenen Minister*innen Antoni Comín, Clara Ponsatí, Meritxell Serret and Lluís Puig. Am 05.11.2017 fand eine 10-stündige Anhörung vor einem belgischen Untersuchungsrichter statt, da Spanien letzte Woche Europäische Haftbefehle gegen die o.g. Personen beantragt hatte. Alle fünf wurden jedoch unter Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Die belgische Justiz hat nun 15 Tage Zeit, um über die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle zu entscheiden (Quelle: DW)In Spanien verbliebene Politiker, wie zum Beispiel der Vorsitzende des aufgelösten katalanischen Parlaments, Carme Forcadell oder der Chef der katalanischen Regionalpolizei, Josep Lluís Trapero wurden aber bereits festgenommen. Einige von ihnen sollen wegen Rebellion, strafbar gemäß Artikel 472 des spanischen Strafgesetzbuchs (Código Penal) angeklagt werden.

Juristische Mängel

In einem Beschluss vom 31. Oktober 2017 erklärte die Strafkammer der Audiencia Nacional (nationaler Gerichtshof Spaniens) Anklage gegen die ehemaligen Vertreter der katalanischen Regierung bzw. gegen einige Abgeordnete zu erheben. Jedoch sind mehrere Punkte dieser Anklageschrift höchst umstritten, insbesondere die der Zuständigkeit.

Keine Zuständigkeit der Audiencia Nacional

Die Zuständigkeit der Audiencia Nacional überhaupt wegen Rebellion anklagen zu dürfen ist höchst umstritten bzw. wird von renommierten Juristen verneint. Der berühmte Jurist Baltasar Garzón zum Beispiel, ehemals selbst Richter der besagten Audiencia Nacional, wies bereits am 26.09.2017 in einem Artikel der spanischen Zeitung El País auf die Probleme der Zuständigkeit hin. Die Audiencia Nacional selbst erklärte nämlich in einem Beschluss vom 2. Dezember 2008, sie sei für die Verfolgung des Deliktes der Rebellion nicht zuständig. Warum sich diese Zuständigkeit nun plötzlich doch für die Audiencia Nacional ergeben sollte, um die katalanischen Regierungsvertreter zu inhaftieren, geht aus dem Beschluss vom 31. Oktober 2017 keinesfalls schlüssig hervor.

Verfolgung des Tatbestandes der Rebellion setzt Gewalt voraus

Neben der Zuständigkeit ist weiterhin fraglich, ob der Tatbestand des Artikels 472, der den Straftatbestand der Rebellion beschreibt, überhaupt erfüllt ist. Der Wortlaut liest sich wie folgt:

Auf Grund des Deliktes der Rebellion soll verurteilt werden, wer sich wegen folgender Handlungen gewalttätig und öffentlich erhebt, um

die Unabhängigkeit irgendeines Teils des spanischen Staatsgebietes zu erklären.

Ja, die Regierung Puigdemont hat die Unabhängigkeit Kataloniens einseitig erklärt – das ist richtig. Auch hat sie dies öffentlich getan. Die Frage ist nur, ob die katalanische Regierung oder das Parlament das in Ausübung von Gewalt vollzogen haben? Nein, das haben sie nicht. Die Katalanen blieben friedlich. Aber von wem ging dann die Gewalt aus, als die Katalanen über die Unabhängigkeit abstimmen wollten? Richtig, diese Gewalt wurde überhart von der spanischen Polizei vollzogen. Ob der Tatbestand der Rebellion aus diesem Blickwinkel letztendlich überhaupt erfüllt ist, kann also abschließend nicht geklärt werden.

Aufhebung politischer Immunität

Das spanische Wahlgesetz (LOREG – Ley Orgánica del Régimen Electoral General) schützt Abgeordnete und Regierungsvertreter politischer Ämter in Artikel 139 Abs. 7 dahingehend, als dass Kandidaten nicht substantiell an der Ausübung ihrer Ämter gehindert werden dürfen. Die Frage, die hier auf jeden Fall gestellt werden muss, ist die, ob die Verhaftung der Parlamentarier verhältnismäßig war oder ob nicht andere, weniger einschneidende Maßnahmen ausgereicht hätten, um den katalanischen Abgeordneten die Ausübung ihrer Geschäfte fortlaufend zu gewährleisten.

Rechtliches Gehör während der Vorladungen

Viele der derzeit Inhaftierten mussten innerhalb kürzester Zeit vor den zuständigen spanischen Gremien vorsprechen. Jedoch erhielt Puigdemonts Anwalt diese Möglichkeit nicht. Es muss deshalb angenommen werden, dass die Einbestellung der katalanischen Regierungsmitglieder und Abgeordneten wohl eher dazu diente, die Personen an Ort und Stelle festzunehmen. Man hätte Carles Puigdemont zum Beispiel auch per Videoanhörung von Brüssel aus befragen können, dies wurde jedoch von Madrid abgelehnt. Einen ausführlichen Artikel über die rechtlichen Fehler des spanischen Generalanwalts findet ihr hier.

Völkerrecht keinesfalls eindeutig

Immer wieder liest man, das Selbstbestimmungsrecht der Völker könne im Falle Kataloniens nicht zur Geltung kommen. Professor Nolte zufolge bestünde der Anspruch auf Unabhängigkeit unter Umständen nur dann, „wenn die Bevölkerung Kataloniens vom spanischen Staat in grob menschrechtswidriger Weise behandelt worden wäre.“ (Quelle: ARD) Nun, einige andere Autoren beurteilen diese Sachlage jedoch ganz anders, wie zum Beispiel Ulrich Gellermann in seinem Artikel „Es lebe Katalonien“, der auf KenFM nachzulesen ist. Ich persönlich teile die Meinung des Internationalen Gerichtshofes (IGH) und widerspreche somit Professor Noltes Meinung, denn der IGH sieht kein Verbot einseitiger Unabhängigkeitserklärungen vor, auch wenn die Erklärung von Regionen vorgenommen wurde, die nicht ausgebeutet wurden, die nicht unter Kolonialherrschaft standen oder deren Einwohner nicht grob menschenrechtswidrig behandelt wurden. Im Original lautete das Gutachten wie folgt:

The Court observes that there were, however, also instances of declarations of independence outside this context and that „[t]he practice of States in these latter cases does not point to the emergence in international law of a new rule prohibiting the making of a declaration of independence in such cases. (Quelle: International Court of Justice, Accordance with international law of the unilateral declaration of independence in respect of Kosovo; Advisory Opinion of 22 July 2010, para 79)

Nur weil eine Unabhängigkeitserklärung einseitig deklariert wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie rechtswidrig ist. Eine solche Erklärung wird immer nur dann  problematisch, wenn sie das UN-Gewaltverbot missachten würde. Im Falle Kataloniens läge die Gewaltbereitschaft aber eher bei der spanischen Zentralregierung als bei den Katalanen selbst. Dies war ganz klar zu beobachten, als spanische Polizeibeamte die Menschen an der demokratischen Abstimmung zur Unabhängigkeit hinderten.

Natürlich schützt das Völkerrecht sowohl die staatliche Souveränität als auch die territoriale Integrität. Aber Sezessionsprozesse sind schwierige politische Angelegenheiten und leider sind sich die politischen Akteure nicht immer so einig wie im Falle des schottischen Referendums 2014, das die Zustimmung der Regierung in London fand. Was in der Tat problematisch für Katalonien werden könnte, wäre die im Völkerrecht notwendige – zumindest teilweise – Anerkennung der Unabhängigkeit anderer Staaten. Aber auch hier gäbe es höchstinteressante Konstellationen, z.B. wenn Russland und China die Unabhängigkeit Kataloniens anerkennen würden.

Vergessen wir bitte nicht, dass Spanien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt hat, während die Bundesrepublik Deutschland sich für eine Anerkennung aussprach. Spanien könnte dem Unabhängigkeitsprozess auch einfach dahingehend zustimmen, indem man ein faires und demokratisches Referendum zulässt. Dann könnten die Katalanen frei entscheiden und auch die EU müsste einen solchen Prozess doch eigentlich begrüßen. Das hat sie bei den Schotten getan, nun ja, weil die wiederum erklärt hatten, im Falle des Brexit dann doch lieber in der EU bleiben zu wollen.

Rein geht, raus wird teuer

Man erinnere sich an die großzügige EU-Osterweiterung, was wäre da schon die Aufnahme Kataloniens? Außerdem gibt es in der EU doch noch weitere kleinere Staaten wie z.B. Luxemburg; oder man hätte Katalonien genauso wie Liechtenstein in den Europäischen Wirtschaftsraum mit einschließen können. Auch eine Aufnahme in den Schengen-Raum wäre möglich gewesen… 

Zwischen Mutterstaat und Abspaltungsregion herrscht leider nicht immer Einigkeit und Spanien wird sich hinter verfassungsrechtlichen Vorgaben verstecken. Vergessen wir bitte ebenfalls nicht den Einfluss der Wirtschaft und den der größeren militärischen Organisationen wie der NATO: Eine Abspaltung Kataloniens könnte (völker)rechtliche Argumente für die Abspaltung der Ost-Ukraine liefern und das will der Westen sicherlich verhindern. Eines scheint jedenfalls festzustehen: Recht und Völkerrecht werden auch im 21. Jahrhundert von mächtigen Interessenvertretern so interpretiert und gebogen, dass die Mächtigen den größtmöglichen Nutzen daraus ziehen können.

Selbstbestimmungsrecht fundamental

Insofern bleibt mir abschließend nur auf die UN-Charta und ihren Artikel 1 Abs. 2 zu verweisen, ebenso wie auf den Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPbpR). Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker ist fundamental und Artikel 1 des IPbpR sagt:

Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

Nicht alles, was klar erscheint, scheint klar zu sein!

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