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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Konservativer Geostratege kritisiert Ukrainepolitik des Westens

Von den milliardenschweren US-Hilfen an die Ukraine hält er nichts. Interview mit Jack F. Matlock im Magazin «Cicero».

8. Mai 2024

von der Redaktion des Infosperbers

upg. Über folgende Einschätzungen und Analysen informieren grosse Medien selten. Von NATO-Politikern werden sie als russische Desinformation abgetan. Infosperber dokumentiert sie, weil man Jack F. Matlock nicht in die Putin-Ecke stellen kann.

  • Er war 1987 bis 1991 als US-Botschafter in der Sowjetunion und von 1981 bis 1983 in der Tschechoslowakei.
  • Er war unter Präsident Ronald Reagan im Nationalen Sicherheitsrat und nahm an mehreren Verhandlungen zur Rüstungskontrolle teil, u.a. am Reykjavik-Gipfeltreffen im Jahr 1986 zwischen Reagan und Gorbatschow.
  • Von 1996 bis 2001 war er Professor am Institute for Advanced Study in Princeton.
  • Er ist Autor von drei Büchern: «Superpower Illusions» (2010), «Reagan and Gorbachev: How the Cold War Ended» (2004) und «Autopsy of an Empire» (1995).

Es folgen wörtlich zitierte Ausschnitte eines langen Interviews, das am 30. April 2024 im Magazin «Cicero» erschien (Zwischentitel von der Redaktion).

Es ist nicht im Interesse der Ukraine, verlorene Gebiete zurückzuerobern

… (Die 50 Milliarden Dollar für die Ukraine) gehen an die Ukraine, ein Land, das diesen Krieg nicht gewinnen kann. Zumindest können sie die Ziele, die die ukrainische Regierung formuliert hat, nicht erreichen. Es wäre nicht einmal im Interesse der Ukraine, alle Territorien zurückzugewinnen, die jetzt von Russland besetzt sind. Dort spricht die grosse Mehrheit Russisch und die jetzige ukrainische Regierung hat verkündet, Russisch sprechende Menschen seien keine echten Ukrainer. Mehr Waffen werden einfach mehr Zerstörung verursachen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Territorium wird Russland erobern und dann darauf bestehen, es zu behalten.

Die Osterweiterung der NATO war ein Fehler

Ich war ausdrücklich dagegen, die NATO über die Mitglieder hinaus zu erweitern, die sie im Jahr 1991 hatte. Ich war bei mehreren Treffen anwesend, bei denen amerikanische, britische und deutsche Offizielle Gorbatschow und Aussenminister Schewardnadse versicherten, dass die NATO nicht weiter nach Osten expandieren würde, nachdem die ehemalige DDR mit in das Bündnis aufgenommen worden ist. Tatsächlich sagte Aussenminister Baker mehrmals, die NATO würde «keinen Zentimeter» expandieren.

Die Erweiterung der NATO war ein Fehler, sowohl für Europa als auch für die USA. Ich würde argumentieren, dass die Beendigung des Kalten Krieges unter anderem auf der Idee basierte, die westliche Allianz nicht zu expandieren. Es gab dafür gute Gründe. Nachdem der Warschauer Pakt auseinanderbrach und die osteuropäischen Staaten mit Unterstützung Gorbatschows zu Demokratien wurden, gab es keine Möglichkeit mehr, dass die Sowjetunion in Westeuropa einfallen könnte. Die Verhinderung dessen war der ursprüngliche Zweck der NATO, und der wurde erreicht.

Der Daseinszweck der NATO war die Verhinderung einer sowjetischen Invasion. Diese Gefahr war gebannt. Es gab einfach keinen guten Grund, die NATO zu erweitern. Zunächst boten wir die sogenannte «Partnerschaft für den Frieden» an, die auch sehr gut funktioniert hätte. Boris Jelzin, Russlands Präsident in den 90ern, fand das akzeptabel.

Was die Russen aufreizte, war die Errichtung fremder, vor allem amerikanischer Militärbasen in Osteuropa. Das führte zur Verschlechterung der Verhältnisse. Das geschah unter der Regierung von George W. Bush, als die USA begannen, aus praktisch allen Rüstungskontrollabkommen zurückzutreten.

In meinen Augen ist es eindeutig, dass der militärisch-industrielle Komplex spätestens seit Ende der 90er nach einem ebenbürtigen Konkurrenten suchte, um die gewaltigen und stetig steigenden Militärausgaben zu rechtfertigen. Für uns, die das Ende des Kalten Krieges ausgehandelt haben, war klar, dass NATO-Basen in Osteuropa Russland provozieren würden. Und damals ging es Russland ökonomisch ja sehr schlecht.

Ich wollte alle diese Konflikte verhindern, und darum warnte ich vor der NATO-Erweiterung. Darum war der Krieg in der Ukraine vorhersehbar. Die Art von Massnahmen, die der Westen traf, brachte notwendig eine Reaktion hervor. Ich halte das für eine Tragödie. Es ist eine Tragödie, was mit Russland und der Ukraine passiert. Und natürlich halte ich Putins Invasion für ein Verbrechen.

Man kann keiner anderen Macht die Demokratie aufzwingen

Die Vorstellung, dass eine externe Macht einer anderen die Demokratie aufzwingen kann, ist komplett verkehrt. Abraham Lincoln sagte, Demokratie ist die «Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk». Also wie kann ein Aussenstehender das anordnen? Es ist Fakt, dass die Unterstützung gewisser Fraktionen in einem anderen Land durch eine fremde Macht nur mehr Unheil stiftet. Sehen Sie doch nur, wie wir auf die – übrigens falschen – Vorwürfe reagierten, Russland habe irgendwas mit Donald Trumps Wahlsieg 2016 zu tun gehabt.

Wir sollten zurück zu der Idee, die Senator William Fulbright ausgedrückt hat: Man verbreitet die Demokratie nur, wenn man sie daheim vorlebt. Und ich muss schon ehrlich sagen, dass wir gerade kein schönes Beispiel abgeben.

Staaten werden autoritär, wenn sie sich bedroht fühlen. Dann suchen sie einen starken Führer, der diese Gefahr abwehrt. Darum unterstützen auch viele Russen den Krieg in der Ukraine, obwohl sie sich mit ihm nicht wohlfühlen. Sie sehen ihn als Verteidigung gegen die NATO und die Vereinigten Staaten. Immerhin haben wir erklärt, dass es unser Ziel sei, Russland zu schwächen.

Die Ukraine hielt sich nicht an die Minsker Abkommen

Wenn wir heute behaupten, wir würden mit unserer Unterstützung der Ukraine die Demokratie verteidigen, ist das Unsinn. 2014 entfernten wir durch einen Staatsstreich die gewählte ukrainische Regierung. Die jetzige ist diktatorisch und korrupt.

Die ukrainische Verfassung sah vor, dass der Präsident die Gouverneure der Provinzen ernennt. Sie wurden nicht gewählt. Es ist, als würde der Bundeskanzler bestimmen, wer Bayern anführt. Nachdem 2014 die Gewalt ausbrach, übernahmen Neonazi-Gruppen zunächst die Posten der regionalen Gouverneure. Darum war eine der Bedingungen der Minsker Abkommen, dass die Ukraine es den russischen Minderheiten erlauben würde, ihre eigenen Gouverneure zu wählen. Ich weiss nicht, warum Deutschland und Frankreich nicht darauf bestanden, dass die Ukrainer das einhalten. Darauf hätten auch die USA bestehen sollen. Wir stimmten dem Abkommen ja zu, auch wenn wir keine Unterzeichner waren.

Dieser Krieg wäre nicht passiert

Der russische Einmarsch ist eine Tragödie. Wo wir doch schon von Deutschland und Frankreich sprechen, beide waren an den Minsk-Abkommen beteiligt, und wenn die Ukraine das Abkommen umgesetzt hätte, wäre dieser Krieg nicht passiert. Frau Merkel sagt jetzt, sie hätten die Minsk-Verträge nur dazu genutzt, um den Ukrainern mehr Zeit beim militärischen Aufbau und der Rückeroberung des Donbass zu verschaffen. Doch ich denke, es ist eindeutig im deutschen Interesse, mit Russland in Frieden zu leben und enge wirtschaftliche Beziehungen zu pflegen. Beide Staaten ergänzen sich: Russland hat die Rohstoffe, die Deutschland braucht, und umgekehrt Deutschland die Technologie, von der die Russen profitieren. Und jetzt müssen die Deutschen Energie zu weitaus höheren Preisen kaufen und ihre Industrie verliert an Wettbewerbsfähigkeit.

Blutvergiessen, um das Erbe Stalins und Hitlers wiederherzustellen?

Die Grenzen, auf deren Einhaltung die jetzige ukrainische Regierung besteht, wurden durch Josef Stalin und Adolf Hitler geschaffen und im Fall der Krim durch Nikita Chruschtschow. Das waren keine Grenzen, deren Verlauf erkämpft oder durch öffentliche Referenden bestimmt wurde. Warum wird jetzt Blut vergossen, um das Erbe Hitlers und Stalins wiederherzustellen? Und in der westlichen Ukraine gibt es eine mächtige und bewaffnete Neonazi-Bewegung, die den Russen ein gewaltiger Dorn im Auge ist. Dies zu leugnen, heisst, die Fakten zu leugnen. Die Gewalt bei den Maidan-Protesten in Kiew 2014 ging ja auch von diesen Neonazi-Gruppen aus.

Russland hat jeden Grund zu der Annahme, dass dieser Putsch von der CIA und anderen NATO-Staaten, insbesondere Grossbritannien, angestachelt wurde. Wie würde sich Deutschland fühlen, wenn eine feindliche Macht versuchen würde, Österreich in eine anti-deutsche Allianz aufzunehmen?

[Zu Aussenministerin Annalena Baerbocks Aussage, «wir kämpfen einen Krieg gegen Russland»:] Es gab die russische Aggression. Aber wir müssen auch anerkennen, dass Deutschland als NATO-Mitglied einen Präzedenzfall schuf, indem es am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien teilnahm und die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannte, ganz ohne die Zustimmung Serbiens. Das war ausserdem eine Verletzung des Helsinki-Abkommens. Wir ignorieren das heutzutage.

Dann gab es natürlich noch die US-Invasion im Irak, einem Land, das die USA weder angegriffen hatte noch für uns eine Gefahr war […] Was war das Resultat? Hunderttausende Tote, davon circa 5000 Amerikaner, weitere hunderttausende Verletzte und die Entstehung von ISIS, einer gefährlicheren Terrororganisation, als es Al Qaida jemals war.

Wenn der Einmarsch in die Ukraine ein Verbrechen ist, dann waren unsere Länder desselben Verbrechens schuldig. Warum das keiner versteht, ist mir unklar.

Reagan: «Wenn sie dieses lausige System wollen, ist das ihr Ding»

Präsident Ronald Reagan war ein Mann, der wusste, wie man verhandelt. Er trat nie mit abstrakten Idealen an, sondern mit konkreten Fakten. Er sagte manchmal: «Die haben ein lausiges System, diese Kommunisten, aber wenn es ist, was sie wollen, ist das ihr Ding.» Und er dachte, die Vereinigten Staaten sollten eine strahlende Stadt auf dem Hügel (shining city upon a hill) sein, ein Beispiel für die Welt, und nicht ein Land, das sich in die Politik anderer Länder einmischt.

Seine Herangehensweise bei Verhandlungen war das genaue Gegenteil dessen, was wir seither getan haben. Er versuchte zu verstehen, was Gorbatschow wollte. Und er formulierte unsere Ziele nicht als Forderungen, sondern als Vorschläge, gemeinsame Ziele kooperativ zu erreichen. Er sagte nicht: «Ihr müsst eure Menschenrechtssituation verbessern.» Er sagte: «Lasst uns zusammenarbeiten, um die Einhaltung der Menschenrechte zu verteidigen.»

Seither gab es bei uns einen ziemlichen Triumphalismus. Wir sahen Russland zunächst als Gegner und dann als Feind an, obwohl Russland uns überhaupt nicht bedroht hatte.

Der jetzige Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat den emotionalen Gehalt eines Bürgerkrieges. Beide Staaten haben eine eng verflochtene Geschichte, und es wird keinen Frieden zwischen ihnen geben, wenn sie sich nicht auf eine Weise einigen, die von beiden Seiten akzeptiert wird.

Weder das Potenzial noch das Verlangen, NATO-Staaten anzugreifen

[Zur Aussage, Russland werde innerhalb weniger Jahre in der Lage sein, NATO-Staaten anzugreifen.] Weder hat Russland dazu das Potential noch das Verlangen. Ich glaube auch nicht, dass sie die Ukrainer im Westen des Landes beherrschen möchten. Das ist sehr zu bezweifeln. Klar, wenn sie weiter vordringen, könnten sie Charkiw und Odessa einnehmen. Und wenn wir weiter Waffen reinschütten und manche davon benutzt werden, um ursprünglich russisches Territorium anzugreifen, dann weiss ich nicht. Sie haben sich das Recht vorbehalten, im Notfall Atomwaffen einzusetzen, und ich hoffe, dass dies von ihnen niemals als notwendig erachtet wird.

Die Kombination der Geschehnisse in der Ukraine, was gerade im Nahen Osten passiert und der Militarisierung der Probleme im Fernen Osten bringt eine geteilte Welt hervor. Sie wird auf einer anderen Basis geteilt werden als während des Kalten Krieges. Sie wird zwischen dem, was wir den «Westen» in Anführungsstrichen nennen, und dem Rest stattfinden. Das ist für uns alle brandgefährlich.

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 Das vollständige Interview im Magazin «Cicero».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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