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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Wo der Staat gegenüber dem Kapitalismus versagt

Für den Wirtschaftspublizisten Norbert Häring erleben wir das «Endspiel des Kapitalismus». Es geht um die Macht der Konzerne. (2)

27. Januar 2022

von Thomas Kesselring

Red. Ökonom Norbert Häring arbeitete für die Commerzbank, bevor er als Wirtschaftsjournalist für die Financial Times Deutschland und das Handelsblatt schrieb. Die wichtigsten Thesen seines neuen Buches «Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen»* fasst der frühere Berner Ethik-Professor Thomas Kesselring in zwei Teilen zusammen. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Buchseiten.

In einem ersten Teil haben wir vier Thesen des deutschen Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring erläutert:

  1. Kapital lässt sich heute nicht mehr als der Wert vorhandener Produktionsmittel eines Unternehmens verstehen, sondern als der abgezinste Gegenwartswert künftiger Erträge.
  2. Genügend grosse Firmen steigern ihre Erträge nicht mehr unter Ausnutzung von Wettbewerb, sondern durch Schaffung von Monopolen.
  3. Der Staat beteiligt sich an dieser neuen Wirtschaftsform und ist dafür mitverantwortlich.
  4. Damit riskieren demokratische Staaten, sich in moderne Feudalsysteme zu verwandeln.

In diesem zweiten Teil fassen wir (mit kleinen Ergänzungen) Härings Ausführungen über die Rolle des Staates im Kapitalismus zusammen.

Steigerung oder Überwindung des Neoliberalismus?

Die Chicagoer («neoliberale») Ökonomen-Schule propagierte einen Staat, der sich aus den Belangen der Wirtschaft so weit wie möglich heraushalten sollte. Heutige Trends weisen in die Gegenrichtung: Der Staat engagiert sich stark für die Wirtschaft, aber nicht zum Kontrollieren des Kapitals, sondern zu seiner Förderung. Die der angelsächsischen Ökonomie zugrunde liegende Überzeugung, «dass alles, was der Kapitalrendite nutzt – und ausschliesslich das, was ihr nutzt –, auch gut für die Gesamtwirtschaft ist» (205), hat längst auch in vielen europäischen Ländern Wurzeln geschlagen. Sie wurde von den Entwicklungen der letzten 30 Jahre zwar falsifiziert, ist aber immer noch Gegenstand kontroverser Diskussion und entzweit die Parteien. Dennoch: «Die angemessene Vergütung des Kapitals hat de facto den Rang eines obersten Staatsziels erhalten» (179). Insofern ist der Staat mit seiner Gesetzgebung für das Auseinanderdriften von Reich und Arm mitverantwortlich.

Wie im ersten Teil ausgeführt, lautet eine wesentliche These von Norbert Häring: «Kapitalismus ist ein Gesellschafts-, kein Wirtschaftssystem. Die staatliche Gewalt und staatliches Handeln sind integraler Teil des Kapitalismus.» (179)

Härings Analyse des Verhältnisses von Kapital und Staat lässt sich, differenziert nach den unterschiedlichen staatlichen Organen – Gesetzgebung (Parlament) und Exekutive, Zentral- oder Notenbank und juridische Institutionen, wie Gerichte, Börsen- bzw. Bankenaufsicht und Kartellamt – in verschiedene Stränge gliedern.

Gesetzgebung

Als Indiz für die Nähe von Politik und Kapital nennt Häring den Umstand, dass Grossunternehmer und Top-Banker nicht selten Ministerposten erhalten und dass Minister und Parlamentarier nach Beendigung ihrer politischen Karriere oft Mandate in Geschäftsleitungen oder Verwaltungsräten annehmen beziehungsweise als Berater von Grossfirmen fungieren (182). Da höhere Erträge durch das Kapital, entgegen der sogenannten «trickle down»-These, normalerweise eben nicht bis zum «einfachen Volk» hinuntersickern, bedeutete die wiederholte Senkung der Unternehmenssteuern jedes Mal ein Regierungsgeschenk an die Kapitaleigner. «Amazon Europa mit Sitz in Luxemburg wies für 2020 einen Gewinn von 44 Milliarden Euro aus und bezahlte in Luxemburg genau null Euro Unternehmenssteuern» (323). Allerdings lassen sich in vielen Ländern politische Parteien durch Firmenspenden bestechen (333). Arbeiter und Angestellte sind dem als schwächste Glieder im System schutzlos ausgeliefert. Ihre Löhne werden stärker besteuert als Kapitalgewinne, und wenn der Staatshaushalt konsolidiert wird, dann am ehesten mit «systematischen Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich» (192).

Zentral- oder Notenbank

Häring steht den Notenbanken kritisch gegenüber – aus mehreren Gründen. Die Zentralbanken erhöhten in den letzten Jahren die Geldmenge massiv, insbesondere nachdem sich die Staaten aufgrund der Bankenrettung infolge der Finanzkrise von 2008 tief verschuldet hatten. Die EZB warf mehrere Jahre lang jeden Monat 60 Milliarden Euro auf die Märkte. Die Geldmenge verdreifachte sich im Euroraum innerhalb von 25 Jahren, in den USA, wo die Notenbankpresse noch schneller lief, sogar innerhalb von 15 Jahren.[i] (Falls dieser Geldsegen als eine Anhäufung von Schulden zu betrachten ist, werden sie wohl nie zurückbezahlt werden können, denn dazu müsste die Wirtschaft in einem Ausmass wachsen, das angesichts der ökologischen Engpässe völlig illusionär wäre.)

Der Grossteil der neu geschaffenen Milliarden floss in die Immobilien- und mehr noch in die Finanzmärkte und trieb die Aktienkurse in die Höhe. Deswegen gab es bis vor Kurzem auch keine Inflation. Die gestiegene Zahlungsbereitschaft der Upper Class verteuerte die Mieten vielerorts hingegen so stark, dass sie für einen wachsenden Teil der Bevölkerung, die vom Geldsegen nicht profitierte, untragbar wurden.

Die bis vor kurzem anhaltende Zinssenkung benachteiligte ebenfalls die «kleinen Leute», deren Bankkonto keinen Ertrag mehr abwirft, und begünstigte wiederum die Wohlhabenden, die ihre Rücklagen vermehrt zur Börse verschoben, deren Auftrieb sich dadurch noch weiter verstärkte. Bei fallenden Zinsen steigt zudem paradoxerweise der Wert von Anleihen (Obligationen), was sich aber leicht erklären lässt (156-60): Angenommen, jemand nehme eine zehnjährige Anleihe in der Höhe von 10‘000 Franken mit einem Zinscoupon von 5% auf. Wenn nach drei Jahren der Marktzins auf 1% sinkt, steigt der Preis der Anleihe, denn zum ursprüngliche Preis würde sie für die restlichen sieben Jahre 4% mehr Zinsen abwerfen als neu aufgelegte Anleihen. Sobald die Zinsen wieder steigen, geschieht jedoch das Umgekehrte: Ältere Anleihen verlieren an Wert.

Eine Zinserhöhung belohnt dann zwar die Sparer, verteuert aber die Ausgaben für den Lebensunterhalt und zwingt die Bezüger geringer Löhne zu Konsumeinschränkungen. Zudem drückt die Zinserhöhung auf die Aktienkurse und vermindert so das Vermögen der Reichen. Steigt der Zins zu schnell, können die Finanzmärkte einbrechen und die Wirtschaft in einen Abgrund reissen, was dann alle noch mehr schädigt.

Eine weitere Hauptthese Härings lautet: Die Unabhängigkeit der Zentralbanken schadet der Allgemeinheit (151-54).
Häring unterstellt hier Regierungen, die konsequent das Gemeinwohl fördern. Die Abhängigkeit der Zentralbank von einer autokratischen Regierung wäre hingegen, wie das Beispiel Türkei zeigt, noch schlimmer. Hier nun die Argumente Härings:

Die Staatsbanken haben, wegen ihrer Unabhängigkeit, gewöhnlich mehr Macht als die Regierungen. Weder die Flutung der Finanzmärkte mit Geld noch die lang anhaltenden Zinssenkungen kamen den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung entgegen. Für diese wäre es besser gewesen, man hätte den Mut aufgebracht, die Banken, die sich verzockt hatten, dem Urteil der Märkte auszusetzen und notfalls pleitegehen zu lassen. In dieser Weise hat Island das Problem gelöst und damit bewiesen, dass dieser Weg gangbar war. Doch als die irische Regierung 2009 dasselbe tun wollte, zwang sie – daran erinnert Häring – die Europäische Zentralbank (EZB) dazu, ihre zahlungsunfähig gewordenen Banken mit einer Finanzspritze zu unterstützen, indem sie drohte, andernfalls «sofort den Zentralbank-Geldhahn zuzudrehen, wohl um die deutschen und französischen Banken vor Verlusten als Anleihegläubiger zu schützen» (153).

Gemäss einer neuen Weltbankstudie verstärkt die Unabhängigkeit der Zentralbanken auch die Ungleichheit der Vermögen: Die Regierung kann nicht gegensteuern, wenn die Staatsbank bei zusätzlichen Sozialausgaben mit höheren Leitzinsen droht. Und gewöhnlich erhöht sie diese laut Häring tatsächlich, «wenn die Löhne steigen, um mehr Arbeitslosigkeit und damit Lohnmässigung zu erreichen» (152).[ii]

Verschafft die Notenbank dem Staat nicht die nötige Liquidität, muss er sich diese über den Anleihenmarkt (Obligationenmarkt) besorgen. Dieser ist der grösste und liquideste Markt und «liefert den universellen Massstab für die risikolose Rendite, die das Kapital erwarten darf» (189). Ein Teil unserer Steuergelder fliesst dann als Zinszahlung des Staates in die Taschen der Anleger und oft genug in die Kassen grosser Finanzinstitute. Ihren Profit verdanken sie in diesem Fall einer Entscheidung der Zentralbank. «Die Notenbanker erzwingen also, dass ihre Schützlinge, die Finanzinstitute, über die Regierungen wachen, deren Haushalte sie vorher mit ihrer Zockerei ruiniert haben» (195).

Das Verhältnis zwischen den Zentralbanken und den Grossbanken ist vom Prinzip der Drehtür bestimmt. Der US-Notenbankchef Alan Greenspan etwa betätigte sich später als Berater für das Investmentbanking der Deutschen Bank. Der frühere deutsche Bundesbankpräsident Axel Weber ist heute Verwaltungsratspräsident der UBS und der ehemalige Schweizer Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand wurde Vize-Chef der grössten Investmentgesellschaft, Blackrock (151). Die exzessive Freiheit, die Investmentbanker bislang genossen haben, ist daher nicht verwunderlich.

Eine ähnliche Durchlässigkeit zwischen Unternehmen und Aufsichtsbehörde lässt sich übrigens auch in der pharmazeutischen Industrie beobachten. Auch hier konterkariert sie die berechtigten Interessen der Bevölkerungsmehrheit.

Weitgehende Freiheiten der Geschäftsbanken und Finanzmärkte (Börsen)

Geschäftsbanken ist es bekanntlich erlaubt, Kredite (z.B. Hypotheken) in einem Umfang zu vergeben, der weit über ihr Eigenkapital plus Spareinlagen hinausgeht. Das läuft darauf hinaus, dass diese Banken Geld kreieren dürfen, und sie tun dies auch für spekulative Zwecke (206). Die Spekulation mit komplexen «Derivaten», die die Banken dank immer raffinierterer Computer und einer laxeren Regulierung seit Anfang der neunziger Jahre schufen, wuchs dabei exponentiell. Das gilt auch für die Spekulation mit hochriskanten Produkten, insbesondere den Kreditausfallversicherungs-Scheinen (Credit Default Swaps, CDS), die wie Wetten funktionieren, sobald sie gehandelt werden. Wenn sich Person X mit einem CDS gegen einen Kreditausfall versichert und Person Y den gleichen CDS ebenfalls kauft, so nimmt er für Person Y den Charakter einer Wette an. Erhält X seinen Kredit nicht zurück, so zahlt die Versicherung nicht nur ihn aus, sondern auch die unbeteiligte Person Y.

Auf Verluste zu wetten, ist an der Börse ein einträgliches, aber völlig absurdes Geschäft. Noch absurder wird es, wenn die Upper Class, die schon das Privileg reduzierter Steuern auf ihre Renteneinkommen geniesst, auf Kreditausfälle bei Staatsanleihen wettet. Dieses Manöver gleicht dann dem eines Pyromanen, der auf eine Feuersbrunst im Haus seines Nachbarn wettet und dieses auch sogleich anzündet. Obwohl die CDS beim Kollaps der Banken und Versicherungen von 2008 eine Schlüsselrolle spielten, ist ihr Volumen heute nach wie vor astronomisch hoch.

Nicht weniger bizarr ist die Tatsache, dass sich die Chefs grosser Firmen mit dem Etikett too big to fail, die der Staat vor dem Untergang rettete, danach gleich wieder millionenschwere Boni ausrichten dürfen. JP Morgan und Goldman prahlten im April 2021 mit einem Gewinnsprung von jeweils mehr als 450 Prozent, den sie dem Abbau von Risikorückstellungen für Kreditausfälle verdankten, nachdem der Staat die Kreditschuldner unterstützt hatte (212).

Ein kleiner Exkurs zur Rolle der Börsen und Finanzmärkte: Die Börse ist zwar kein öffentliches Organ, aber eine Börse mit hohem Umsatzvolumen ist für viele Staaten eine Quelle des Stolzes. Ein Grossteil der Finanztransaktionen findet zudem ohne Überwachung der Börsen statt, «over the counter». Schon 2007 betrugen Währungstransaktionen, die dem Handel dienten, weniger als zwei Promille der Währungsspekulationen insgesamt.[iii] Der Sekundenhandel hat seither noch zugenommen. Allein der Nominalwert der Derivate erreicht ein Mehrtausendfaches des schweizerischen Bruttosozialprodukts. Der Beitrag der Finanzmärkte zur produktiven Wirtschaft ist somit infinitesimal gering, ihr Einfluss auf die Politik hingegen immens, und er entzieht sich weitgehend der demokratischen Kontrolle.

Finanzmarkt- bzw. Bankenaufsicht, Kartellämter, Gerichte

Die Aufsicht über die Geldhäuser und Finanzmärkte ist von der Regierung ebenfalls unabhängig – unabhängiger jedenfalls als von den Institutionen, die beaufsichtigt werden sollen. Auch hier funktioniert eine Drehtür: Für einen Finanzspezialisten ist es nicht ungewöhnlich, bald bei einer Bank und bald bei der Bankenaufsicht zu arbeiten. Wie soll die Finanzmarktaufsicht aber gefährliche Missbräuche unterbinden, wenn sie den Playern auf den Finanzmärkten nicht zu stark in die Parade fahren darf?

Auch wenn Häring es nicht erwähnt: Trotz Ungereimtheiten beim Finanzhaus Wirecard, über welche die Financial Times seit 2015 berichtete, fasste die deutsche Finanzmarktaufsicht Bafin den Skandalkonzern jahrelang mit Samthandschuhen an und verklagte stattdessen den investigativen Journalisten der Financial Times. Und die schweizerische FINMA erfuhr spätestens im April 2016 durch einen Artikel im Wall Street Journal vom Finanzskandal der Credit Suisse mit Mosambik, schwieg dann aber trotz sporadischer Presseberichte fünfeinhalb Jahre beharrlich, bevor sie letzten Oktober – zeitgleich mit der Verkündung saftiger Bussen gegen die CS durch die englische und US-Bankenaufsicht – die Bank ebenfalls öffentlich massregelte. 

Wie Gerichte und Kartellämter trägt die Finanzmarkt-Aufsicht eine grosse Verantwortung dafür, wie weit die Monopolbildung staatlicherseits toleriert wird. Die Eingliederung in de facto-Kartelle wird Unternehmen nämlich manchmal auch durch Akteure wie Investmentfonds aufgezwungen, die ja eigentlich auch der Finanzmarkt-Aufsicht bzw. den Gerichten unterstehen. Leistet eine börsenkotierte Firma den Avancen eines starken Konkurrenten oder eines aggressiven Investors zu wenig Widerstand, kann sie einer «feindlichen Übernahme» zum Opfer fallen.

Investmentfonds sind oft auch mitverantwortlich für die Bildung von Monopolen und Kartellen. Investiert ein Fonds in die wichtigsten Firmen des gleichen Marktsegments, so kann er mit etwas Glück die Preise bei allen gleichermassen beeinflussen. «Ob Deutsche Post, DHL, Fedex oder UPS: Den Vermögensverwaltungskonzernen Blackrock und Vanguard ist es gleich, von wem Sie Ihr Paket transportieren lassen. Hauptsache, Sie bezahlen viel dafür. (…) Da liegt die Annahme nahe, dass Grossaktionäre aller in einer Branche tätigen Konzerne auf Maximierung der gesamten Gewinnsumme drängen» (172).

Auch Private-Equity-Firmen pflegen Unternehmen auf Trab zu halten. Sie operieren nach dem Geschäftsprinzip, Unternehmen, die sie für schlecht geführt halten, zu kaufen und zu sanieren. Das sind oft «Unternehmen, die nicht den Normen des Kapitalmarktes folgen» (168). Ihre Sanierung besteht dann z.B. im Verkauf von Grundstücken, der Senkung der Löhne oder der Entlassung eines Teils der Belegschaft. Private-Equity-Firmen liefen früher unter der Bezeichnung «Leveraged Buyout» («mit Schulden gehebelter Unternehmenskauf») und werden oft auch «Heuschrecken» genannt: «Wenn ein Unternehmen aus Sicht des Kapitalmarkts (…) seine Beschäftigten und Kunden zu gut behandelt, zu viel investiert und ein Eigenkapitalpolster für schlechte Zeiten vorhält, dann kommen die Heuschrecken, kaufen es und sorgen für Disziplin» (167). Erfüllt ein Unternehmen die Wünsche eines Fonds mit hohem Stimmrechtsanteil nicht, so muss es damit rechnen, im Stich gelassen zu werden, wenn die «Heuschrecken» kommen (173).

Staatliche Institutionen könnten zu vielen dieser Machenschaften das letzte Wort sprechen und sollten es eigentlich. Fusionen und Firmenzerschlagungen wären aber wohl wesentlich seltener, wenn der Staat sie nicht ausdrücklich tolerieren würde.

Eine zentrale These Härings lautet deshalb: Statt dass der Staat die Banken und Finanzmärkte durch seine Aufsichtsorgane an die Kandare nimmt, ist es eher umgekehrt: Den Banken und Finanzmärkten wird eine Wächterfunktion über den Staat eingeräumt. (193)

Schwächung der Demokratie, Schwächung des Staates

Als Verteidiger der Demokratie fühlt man sich unter diesen Verhältnissen nicht mehr ernst genommen. Einer amerikanischen Studie von 2021 zufolge hat das oberste Fünftel der Bevölkerung, statistisch gesehen, den grössten Einfluss auf Regierungs-Entscheidungen. Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Massnahme umgesetzt wird, umso geringer, je grösser der Anteil an Armen ist, die diese Massnahme befürworten. Eine deutsche Studie, die von 1998 bis 2015 durchgeführt wurde, zeigt eine ähnliche Tendenz (196ff.).[iv]

Daraus leitet sich eine weitere These Härings ab: Die demokratischen Institutionen sind schwach und werden weiter ausgehebelt (332ff.). «Die repräsentative Demokratie war schon immer ein Herrschaftsinstrument der Besitzenden» (332). Häring fordert deshalb eine Verstärkung direkt demokratischer Entscheidungsstrukturen. 

Dem Staat fehlt es aber nicht nur an Entschlossenheit, zumindest dort gegen Kapitalinteressen einzuschreiten, wo diese die Gemeinschaft schädigen und wo hilfreiche Gesetze durchsetzbar wären. Dem Staat fehlen zum Teil auch grundsätzlich die Mittel, gegen zweifelhafte Geschäftspraktiken vorzugehen. Probleme, gegenüber denen Nationalstaaten die Kontrolle weitgehend verloren zu haben scheinen, sind die Ausbreitung von Offshore-Firmen, die Schaffung von Intransparenz durch Firmen-Verschachtelung, das Gegeneinander-Ausspielen nationaler Gesetzgebungen und allgemein die Zunahme von Geschäften im juristischen Graubereich. «Wenn die UN-Schätzung zutrifft, wonach die Unternehmen weltweit Steuern im Umfang von 500 Milliarden bis 650 Milliarden Dollar pro Jahr durch Nutzung von Steuerschlupflöchern und Finanzoasen vermeiden, würde das bei den geltenden Steuersätzen bedeuten, dass dafür ein Drei- bis Vierfaches an Werten bewegt wird. Diese massiven Finanzbewegungen am Rande der Legalität erledigt die Finanzbranche kaum für weniger als einen dreistelligen Milliardenanteil am Gewinn. Statistiken gibt es darüber naturgemäss nicht. Aber für kleines Geld bekommt man diese Dienstleistungen nicht» (171).

Banken, Beratungsfirmen und Winkeladvokaten (die ihr Knowhow immerhin an staatlichen Hochschulen erworben haben) leisten bei der Unterminierung der staatlichen Autorität ihre Dienste, die Politik schaut weg oder fühlt sich überfordert, und die Gerichte sind oft inkompetent, weil an nationale Gesetzgebungen gebunden, sie kapitulieren vor der Komplexität der Fälle oder arbeiten nicht schnell genug, um die Missstände erfolgreich einzudämmen.

Ein neuer Feudalismus

So wie in der Wirtschaft der Markt, wird im Staat die Demokratie immer stärker zurückgedrängt. Es stellt sich daher die Frage, wie lange der demokratische Rechtsstaat gegenüber diesen Herausforderungen resistent bleibt.

Das leitet zur eingangs bereits erwähnten These Härings über: «Die Schöne neue Welt nach dem Kapitalismus ist eine Art neuer Feudalismus» (219).

Über die von machtvollen Firmen ausgehende Tendenz, sich zu immer grösseren Monopolen zusammenzuschliessen, und über die Anmassung grosser Stiftungen und Lobby-Organisationen (Gates-Stiftung, Rockefeller-Stiftung, Weltwirtschaftsforum), sich auf die Pyramidenspitze der globalen Macht setzen zu wollen, wurde schon im ersten Teil berichtet. Dieser zweite Teil fasst die Argumente Härings zusammen, die zur Konklusion führen, dass staatliche Institutionen einer Tendenz in Richtung Neo-Feudalismus erliegen, und statt dass sie dieser Tendenz aktiv gegensteuern, diese Tendenz womöglich sogar noch fördern.

Fazit 

Der Staat wehrt sich auch dort nicht gegen die Monopolbildung, wo sie für die Gesellschaft schädlich ist. Liberale Ideale werden preisgegeben. Die breite Bevölkerung sieht sich mit «erzwungen-freiwilligen» beziehungsweise «scheinfreiwilligen» Massnahmen konfrontiert (229, 251) und reagiert mit Staatsverdrossenheit, Konfusion und Opposition. «Propaganda, Kontrolle und Repression müssen dafür sorgen, dass alle in der Spur bleiben» (219).

Härings Analysen zu den staatlichen Institutionen lassen sich in fünf Thesen zusammenfassen:

  1. «Kapitalismus ist ein Gesellschafts-, kein Wirtschaftssystem. Die staatliche Gewalt und staatliches Handeln sind integraler Teil des Kapitalismus.» (179)
  2. Die Unabhängigkeit der Notenbank von einer demokratischen Regierung verschafft dem Grosskapital Vorteile zu Ungunsten der breiten Bevölkerung (151-54).
  3. Statt dass der Staat (die Finanzmarktaufsicht) die Finanzmärkte wirksam kontrolliert, unterwirft er sich diesen und gesteht ihnen damit eine Art Wächterfunktion zu (193).
  4. Demokratische Institutionen sind schwach und werden weiter ausgehebelt (332ff.).
  5. Es besteht die Gefahr einer Art von neuem Feudalismus (219).

Vorschläge für Reformen

Im Schlusskapitel macht Häring Vorschläge für Reformen und skizziert Möglichkeiten einer Richtungsänderung. Hier seine wichtigsten Anregungen, soweit sie die Politik betreffen:

  • Es braucht «mehr Mitsprache für das Volk» (331). Direkt demokratische Entscheidungen sind zu fördern. Also: mehr Abstimmungen in wichtigen Fragen (obwohl grundsätzlich auch die Mehrheit einmal irren kann).
  • «Die Konzentration von Geld und Macht» darf bei politischen Entscheidungen nicht den Ausschlag geben (335). Das spricht auch gegen Parteispenden (333) und für eine Begrenzung des Lobbyismus.
  • Amtsperioden von Parlamentariern sind (ausser in Milizparlamenten, wie der Schweiz) stärker zu beschränken, das verflüssigt die Hierarchien und vermindert Lobbyismus (334).
  • Soziale und kulturelle Anlässe sollten aufgewertet, materiellem Reichtum hingegen jeder ideelle Wert abgesprochen werden (329).
  • Militärische Rüstung ist massiv zu reduzieren, umso mehr, als sie zu den gröbsten Umwelt- und Klimakillern gehört (330f.)

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Cover Endspiel des Kapitalismus.Quadriga
 Cover «Endspiel des Kapitalismus» © Quadriga

Norbert Häring: Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wie wir sie zurückholen», Quadriga-Verlag 2021, 34.90 CHF;
Aus der Mitteilung des Verlags: Millionen Menschen haben ihren Job verloren. Doch der Aktienmarkt boomt. Hunderttausende Mittelständler sind in finanzielle Not geraten. Doch der DAX erreicht Rekordwerte. In unserem Wirtschaftssystem läuft etwas gewaltig schief – und es wird noch schlimmer kommen, wenn wir nicht endlich den Hebel umlegen. Norbert Häring zeigt, wie einflussreiche Unternehmen die Corona-Krise nutzen, um ihre Macht zu zementieren und eine lang geplante Agenda zur digitalen Kontrolle umsetzen. Zeit für ein neues System, das allen dient, nicht einer kleinen Elite.
«Norbert Häring macht begreifbar, wie Kapitalbesitzer sich dafür bezahlen lassen, dass sie eine eigens für sie geschaffene Knappheit beseitigen. Und er beschreibt, wie wir die Marktwirtschaft aus den Fesseln des Kapitalismus befreien können.» Sahra Wagenknecht.

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FUSSNOTEN

[i] Entwicklung der Geldmengen im Euro-Raum und in den USA
ii] Michael Akin, Andreas Kern, Mario Negre: Does Central Bank Independence Increase Inequality? World Bank Policy Research Working Paper 9522, Januar 2021. Online hier.
[iii] Dani Rodrik: The Globalization Paradox. London/NY 2011, Kap. 5, S.107.
[iv] Martin Gilens: Affluence and Influence. Economic Inequality and Political Power in America. Princeton Univ. Press, 2012. Und: Lea Elsässer, Svenja Hense, Armin Schäfer: Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015 (2016). Online hier.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor dankt Norbert Häring, Vittorio Hösle, Peter Ulrich und Ali Salem für kritisch-konstruktive Kommentare zur Erstfassung dieses Textes.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Thomas Kesselring

ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Bern und emeritierter Professor für Ethik, Multikulturalität, Kinderphilosophie und Ökologie an der Pädagogischen Hochschule Bern. An den Universitäten von Porto Alegre und Caxias do Sul (Brasilien) und Maputo (Moçambique) lehrt er regelmäßig als Gastdozent.

 

© der-demokratieblog.de | Dr. Elmar Widder