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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Israel – Palästinenser: Schrecklich deprimierend vorhersehbar

Vom Unrecht des Stärkeren – und der Frage, wen dieser Konflikt noch bewegt.

12. Mai 2021

von Erich Gysling

Es ist alles schrecklich deprimierend vorhersehbar: Hamas wird aus dem Gazastreifen weitere Raketen auf Israel abfeuern; Israel wird jeden Angriff massiv vergelten; in Jerusalem werden Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte sich mindestens sporadisch immer neu  bekämpfen; die palästinensische Führung wird sich hinter Mauern verschanzen, um keine Wahlen durchführen zu müssen – und die israelische Regierung, mit oder ohne Netanyahu, wird weiterhin taktieren zwischen den Forderungen der Kräfte rund um die mächtige Siedlerbewegung und jenen politisch schwachen Kreisen, welche eine gemässigtere Strategie gegenüber den Palästinensern verlangen. Westliche Regierungen werden (ebenfalls weiterhin, es langweilt wohl schon fast alle Leserinnen/Leser weltweit) so genannte Zurückhaltung aller Beteiligten fordern. Und die tonangebenden arabischen Regime (Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate in erster Linie) werden bei jedem neuen Gewaltausbruch ihrer Empörung über Israel Ausdruck geben, dann für einige Zeit schweigen, um danach zum courant normal zurück zu finden, der konkret beinhaltet: «Wir sind solidarisch mit den Palästinensern, mit Muslimen überhaupt, in Wirklichkeit aber anerkennen wir die Realitäten, d.h. die Stärke Israels und die Möglichkeiten, dank Beziehungen mit Israel Bündnispartner der USA zu bleiben.» Human Rights Watch brandmarkte kürzlich Israel mit dem Begriff «Apartheid». Über zeitgeschichtliche Vergleiche kann gestritten werden – aber wie, mit welch anderem Ausdruck soll beispielsweise dieser Fall bezeichnet werden (er ist ein Mosaik- oder Dominostein in der aktuellen Konfliktgemengelage in Jerusalem).

Israelische Gerichte stützen «Recht auf Rücknahme»

Jüdische Siedlerorganisationen haben vor israelischen Gerichten durchgesetzt, dass demnächst mehrere palästinensische Familien aus ihren Häusern im Bezirk Sheikh Jarrah, Ostjerusalem, vertrieben werden. Die Begründung: Das Grundstück, auf dem sich die betreffenden Häuser befinden, sei 1876 von einer jüdischen Stiftung gekauft worden. Aber 1948 eroberte Jordanien den Ostteil von Jerusalem und liess dort Wohnungen für palästinensische Flüchtlinge errichten, die aus dem Gebiet des neuen Staates Israel vertrieben worden waren. 1967 jedoch eroberte Israel, im Sechs-Tage-Krieg, u.a. den Ostteil Jerusalems. Und seither versuchen gewisse israelische Organisationen (im konkreten Fall finanziert von Sympathisanten in den USA), bei Gerichten in Israel ein Recht auf „Rücknahme“ entsprechender Häuser / Wohnungen / Grundstücke durchzusetzen. Oft mit Erfolg. Das ist die eine Seite der Medaille – die andere müsste fairerweise wohl lauten, dass auch Palästinenser, die früher einmal, auf dem Gebiet Israels, ein Haus, eine Wohnung, ein Grundstück ihr Eigen nannten, ein Recht auf die Wiederinbesitznahme des entsprechenden Objekts hätten. Aber: Fehlanzeige, ein solches Recht gibt es nicht. Weshalb? Weil auf diese Frage keine Antwort gegeben wird, brandmarkt, wie erwähnt, Human Rights Watch Israel als Apartheid-Staat. Der israelisch-palästinensische Konflikt beruht, auf der Mikro-Ebene, aus solchen und ähnlichen Problemen – hierzulande würden wir salopp vielleicht sagen: «aus Juristenfutter». Das gilt auch für viele Dispute um Rechte in dem von Israel besetzten Westjordanland – sie  gehen auf kulturhistorisch unterschiedliche Vorstellungen und Praktiken zurück. Konkret: in der weit verbreiteten arabischen Tradition, also auch jener der Palästinenser, wurden die Rechte für das Land, das Terrain, jahrhundertelang mehrheitlich nicht für einen Besitz in westlichem Sinn erteilt, sondern lediglich für die Nutzung, beispielsweise für Weiderechte oder für den Ertrag aus den kultivierten Feldfrüchten. Das Land blieb zumindest theoretisch im Besitz der Allgemeinheit – aber das, was auf dem Land gebaut wurde, Häuser etc., das wurde als Privatbesitz anerkannt. Warum ist das jetzt von Bedeutung? Weil dieses verschiedenartige Verständnis von Rechten auf Land, auf ein Grundstück, dazu führt, dass Israel im Gebiet der Palästinenser oft argumentiert, es gäbe da keine juristisch belegbaren «Titel». Also könne sich der israelische Staat das entsprechende Terrain ohne Verletzung irgendwelcher Ansprüche als «berechtigt» deklarieren. So wurde in vielen Fällen, beispielsweise, der israelische Anspruch auf Ländereien begründet, auf denen im Westjordanland israelische Siedlungen (die sich mehrheitlich zu veritablen Kleinstädten entwickelten) gebaut wurden. In der gegenwärtigen Eskalations-Spirale wirken verschiedene Kräfte auf verhängnisvolle Weise ineinander:  Empörung vieler Palästinenser über die Verdrängung aus Quartieren in Ost-Jerusalem; Härte des Vorgehens der israelischen Truppen gegen Ansammlungen von Palästinensern rund um die al-Aqsa-Moschee; Frustration vorwiegend bei jugendlichen Palästinensern über die eigene, vergreiste Fatah-Führung; Suche nach Profilierung von Seiten des Wahl-Halbverlierers Netanyahu; Rivalität zwischen den palästinensischen Kräften Fatah und Hamas. Und, bei den Menschen im Gazastreifen, diesem hoffnungslos übervölkerten Mini-Gebiet (360 km2, fast zwei Millionen Menschen), offenkundig ein Gefühl von täglich steigender Hoffnungslosigkeit.

Internationales Desinteresse

Plus: Ratlosigkeit und letzten Endes auch Desinteresse international. Gilt wohl auch für die Schweiz – wer will wirklich noch, ausführlich, in unseren Medien Beiträge über die Palästinenser lesen, hören, sehen? Man blättere nur einmal durch die Zeitungen vom Dienstag, 11. Mai, dem Tag, an dem 24 Menschen im Gazastreifen durch israelische Raketen starben und über hundert in Jerusalem verletzt wurden? An dem, wieder, Raketen aus Gaza in israelischen Städten einschlugen? In den Nachrichtensendungen von Radio SRF gab es mehrheitlich noch kleine Hinweise, zumindest am Vormittag schienen allerdings so genannte Reportagen über die Arbeit von Reinigungskräften in ein paar Städten der Schweiz viel interessanter. Und um die Mittagszeit wurden die Probleme in Nahost ohnehin überlagert durch Videos / Meldungen über einen Amoklauf in Kazan, Russland. So wird es wohl weiter gehen.

Erich Gysling

berichtete als junger Redakteur der Schweizer Rundschau hautnah über den Prager Frühling. Nach dem russischen Einmarsch in die damalige Tschechoslovakische Sozialistische Republik (CSSR) fuhr er vom Westen aus zwei Mal über die Grenze und interviewte den Schriftsteller und späteren Präsident Tschechiens, Václav Havel, dem damals ein Mini-Spion vom russischen Geheimdienst in die Decke seiner Wohnung eingebaut werden sollte. Die ganze Story können Sie hier nachlesen: Erich Gysling überholte 1968 russische Panzer in der CSSR

 

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