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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

«Sind Freiheit und Unabhängigkeit nochmals 300’000 Tote wert?»

Es ist die Frage eines Pazifisten. Die dahinterstehende Frage «was wäre, wenn» könne niemand sicher beantworten, sagt Olaf Müller.

1. Februar 2023

Interview von Ralph Erdenberger mit Olaf Müller

upg. Grosse Medien informieren zurzeit vor allem über Argumente, die dafür sprechen, der Ukraine zu helfen, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Infosperber geht davon aus, dass die Leserinnen und Leser die entsprechenden Argumente kennen. Deshalb lässt Infosperber zur Meinungsbildung ergänzend Stimmen zu Wort kommen, welche die Fortsetzung des Krieges für riskant halten. Heute den Pazifisten und Philosophen Professor Olaf Müller. Folgendes ist ein Interview von Ralf Erdenberger mit Olaf Müller, das der WDR am 17. Januar ausstrahlte. (Umgangssprachliches in Schriftdeutsch übertragen).

Wie stehen Sie als Pazifist zur Lieferung und zum Einsatz von Waffen?

Ich bin ein vorsichtiger Pazifist. Ab welchem Punkt müssen wir vielleicht doch mit dem Gedanken spielen, Waffen einzusetzen? Da wird der Pazifist – anders als seine Gegner – zaudern und zögern. Ich finde bereits die Waffen gefährlich, die wir geliefert haben. Doch wie bewerten wir «gefährlich»? Woher wissen wir, welche Folgen unsere Waffenlieferungen haben? Ich sorge mich in diesem Streit um diejenigen, die so sicher zu wissen glauben, welches die Folgen sein werden. Ich bin Philosoph genug – als Erkenntnistheoretiker – dass ich leider entgegnen muss: «Das wisst ihr alles gar nicht! Ihr könnt die Zukunft nicht voraussehen. Ihr wisst nicht, was ihr riskiert.» Deshalb bin ich dafür, eher vorsichtig zu sein.

Aber wenn man zögert, weil man nicht weiss, was kommt, könnte man einen grossen Fehler begehen. 

Tatsächlich ist die Zukunft für beide Seiten nicht vorhersehbar. Sie versteckt sich hinter einem Nebel der Unwissenheit. Trotzdem müssen wir versuchen, die Gefahren einzuschätzen. Ich sehe zwei grosse Gefahren, welche die Gegner des Pazifismus unterschätzen. Die eine Gefahr [eines fortgesetzten Krieges] sind die tatsächlichen Opfer dieses Krieges auf allen Seiten. Diese Opfer hätte es nicht gegeben, wenn man auf eine militärische Gegenwehr verzichtet hätte. Die andere Gefahr ist der gefährdete Frieden in Europa, die Gefahr eines Atomschlags…

… durch Eskalation. Ich möchte gerne zuerst auf die erste Gefahr eingehen. Sie sagten, wenn man darauf verzichtet hätte, die Ukraine zu unterstützen, hätte man weniger Opfer in der Ukraine?

Ja. Ein Problem besteht im kontrafaktischen Satz «Was wäre, wenn?». Gegner des Pazifismus argumentieren ja in etwas so: «Hätte sich die Ukraine gar nicht gewehrt oder früh kapituliert, dann hätten die Russen vor Ort einen Völkermord begangen». Darauf antworte ich vorerst skeptisch: Das wissen wir nicht, dass das so gekommen wäre.

Schauen wir die Opferzahlen genauer an. Darüber gibt es bisher zwar sehr schlechte Informationen, weil sie wohl bewusst unter Verschluss gehalten werden. Mitte November gab es jedoch eine Schätzung eines hohen amerikanischen Militärs, die ich für ziemlich seriös halte. Er hat gesagt: «Wir haben einerseits unter den Zivilisten in der Ukraine ungefähr 40’000 Todesopfer, und dann haben wir auf Seiten der russischen Armee ungefähr 100’000 Soldaten, die entweder gestorben sind oder kampfunfähig geschossen wurden. Auf der ukrainischen Seite waren es ungefähr genau so viele.» Das wären insgesamt fast 300‘000 Tote.

Das war Mitte November. Die Aussage ist natürlich nicht 100-prozentig belastbar, aber es war eine seriöse Schätzung. Und dieses Ausmass an Toten lässt mir ein Gruseln über den Rücken laufen.

Die Gegner des Pazifismus, die einen Völkermord befürchteten, müssten jetzt etwa behaupten: «Wenn die Ukraine sich militärisch nicht gewehrt hätte, hätte die russische Armee 40’000 Zivilisten abgeknallt». Und woher wollen sie das wissen? Woher wissen sie, dass eine Armee einfach so losgeht, und sich-nicht-wehrende Zivilisten – in dieser Grössenordnung – ermordet? Da ist eine bestimmte Wertung drin, nämlich eine Wertung der russischen Kultur, der russischen Armee. Und die Aussage setzt einen Pessimismus voraus. Diesen Pessimismus haben sie nicht durch irgendwelche Fakten unterlegt, sondern der ist frei improvisiert.

Mit dem gleichen Recht können wir auch optimistisch sagen: «Das Ermorden von sich-nicht-wehrenden, lächelnden, singenden Zivilisten ist eine scheussliche Angelegenheit, das macht fast kein Mensch.» Unser Menschenbild spricht dagegen, dass in diesem Ausmass solche Verbrechen passiert wären.

Sie sagen damit ja eigentlich: «Wenn man jetzt nicht unterstützt hätte – vom Westen aus mit Waffen – hätte man viele Menschenleben praktisch gerettet.» 

«Gerettet» ist vielleicht das falsche Wort. Es wären vermutlich viele nicht gestorben, die gestorben sind. Zum Beispiel in Mariopol, das ist ja eine unglaubliche, schreckliche Geschichte…

Sie haben jetzt das Leben als Massstab gesetzt. Dieser Massstab blendet aber Konsequenzen aus, die möglicherweise später eintreten. Es hätten sich doch Grenzen verschoben, und wir hätten etwas toleriert, was vielleicht weitere schlimme Folgen hätte. 

Genau. Aus einer philosophischen Perspektive ist es extrem schwierig, Menschenleben aufzuwiegen gegen beispielsweise die Frage der staatlichen Unabhängigkeit, Diktatur, Fremdbestimmung, Unterdrückung durch die Russen. Wie bewertet und wie berechnet man das? Ich möchte einfach darauf hinweisen, dass es für den Preis der Unabhängigkeit irgendeine Obergrenze an Toten gibt. Wir nähern uns dieser Obergrenze immer stärker an, wo immer wir sie ansetzen. Das ist eine brutale Rechnung. Aber es ist klar, dass es nicht im Sinne der Ukraine sein kann, einen gigantischen Blutzoll zu zahlen, um vielleicht die Unabhängigkeit aller ihrer territorialen Einheiten aufrechtzuerhalten.

Muss die Ukraine nicht selber beurteilen, wie hoch der Preis der Freiheit ist? Wenn man sich nicht wehrt, dann lässt man den Aggressor gewähren. Was Freiheit Wert ist, muss doch erstmal bei dem bleiben, der sie verteidigt, also bei der Ukraine selber, die um Hilfe bat.

Ja, auf jeden Fall. Wir können von aussen locker darüber reden. Es fühlt sich falsch an, von aussen irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Weil wir aber aufgefordert sind, Waffen zu liefern, müssen wir mitdenken. Und die Bereitschaft, wirklich Zigtausende an Menschenleben zu opfern für eine staatliche Unabhängigkeit, ist aus meiner Sicht – ab einer bestimmten Grenze jedenfalls – nicht mehr akzeptabel.

Es kommt ja oft vor, dass man das nicht genau vorhersehen kann, was die Folgen sein werden, wie lange das dauern wird und so weiter. Und die russische Armee kämpft und kämpft und kämpft. Es ist nicht abzusehen, dass die irgendwie aufgeben werden. Es wird einfach nur alles immer schlimmer.

Gerne würde ich einen optimistischen Gegenblick einbringen. Die Nachrichten berichten immer durch die militärische Brille über Kampfaktionen und Erfolge der einen oder anderen Seite. Es ist jedoch ein wichtiger Teil des Pazifismus, für den ich plädiere, dass wir bei der Betrachtung der Wirklichkeit anders hinschauen sollten. Das bedeutet, dass wir systematisch nach friedlichen Konfliktlösungsmöglichkeiten Ausschau halten. Einerseits für die Planung, und andererseits auf der Suche nach Beispielen, bei denen das funktioniert hat. Ich finde es gegenwärtig schockierend, dass positive Beispiele dieser Art aus dem Ukrainekrieg praktisch nicht bekannt gemacht werden.

Welche zum Beispiel gibt es denn? 

Ein katalanischer Wissenschaftler war bis Juni letzten Jahres in der Ukraine und versuchte, systematisch solche Beispiele zu sammeln. Doch die von ihm publizierte Studie ist in der Öffentlichkeit praktisch nicht bekannt. Sie enthält ein paar Hundert Beispiele zivilen Widerstands, die Erfolg hatten. Viele sind sehr bescheiden. Ich nenne jetzt mal das allerstärkste Beispiel, das wenig bekannt ist. Es war am 26. März letzten Jahres, als die russische Armee in Slawutytsch einmarschierte. Der Ort mit etwa 40’000 Einwohnern befindet sich nicht weit von Tschernobyl, wo viele Arbeiter der ehemaligen Atomanlage von Tschernobyl lebten. Die russische Armee nahm diese Stadt ein, nahm den Bürgermeister fest und steckte ihn ins Gefängnis. Darauf ging die Zivilbevölkerung auf den Marktplatz und hat sich singend und lächelnd den russischen Soldaten entgegengestellt. Ganz friedlich, ohne jede Aggression. Die russische Armee schoss ein paar Mal in die Luft, um die Leute zu erschrecken, was diese aber offensichtlich nicht beeindruckte. Noch während dieser Demonstration von immer mehr Zivilisten kam es zu Verhandlungen. Das Ergebnis war ein doppeltes: Einerseits wurde der Bürgermeister wieder freigelassen, andererseits wurde den Russen erlaubt, in den Häusern nach versteckten Waffen zu suchen. Die Einwohner versprachen, nicht bewaffnet zu sein. Die Russen hatten dann in der Tat bestätigt, dass die Stadt unbewaffnet war. Während die Demonstrationen noch andauerten – so beschrieben es Teilnehmer – zeigten sich russische Soldaten schockiert davon, dass ihnen friedliche, singende, lächelnde Menschen gegenüberstanden. Am 28. März marschierte die russische Armee dann ab.

Und jetzt ist Slawutytsch unter russischer Herrschaft?

Nein, die Stadt ist unter ukrainischer Kontrolle. Solche Fälle sind eben nicht bekannt. Die Demonstrationen wurden damals improvisiert. Sie wurden nicht von langer Hand geplant. Das ist eine optimistisch stimmende Geschichte unter den vielen, vielen Horrormeldungen. Mein Punkt ist: Wenn wir solche Beispiele nicht suchen und schauen, wie das funktionieren kann, dann werden wir diese Beispiele auch nicht finden.

Doch für diesen pazifistischen Weg braucht es immer eine Gegenseite, die beeindruckt ist und dann eben nicht schiesst. 

Exakt. Und wir können fragen: «Wie wahrscheinlich ist denn das?» Die Antwort hängt sehr viel von unserem Menschenbild ab. Es gibt Leute, die haben ein pessimistisches Menschenbild, und sagen, am Ende kann der Mensch nur mit vorgehaltener Knarre zur Raison gebracht werden. Diese Position kann viele empirische Daten auf ihrer Seite anführen. Und dann gibt es die optimistische Haltung: Der Mensch ist grundsätzlich gut und wird nur unter Druck immer weiter brutalisiert. Die Pazifisten meinen, dass man dieses zweite Menschenbild endlich mal ernst nehmen und den friedlichen Weg ausprobieren sollte. Wir haben Weisheitslehrer seit Jahrtausenden, die das vorschlagen, und es wird kaum je ausprobiert.

Aber hier müssen wir doch konkret schauen, mit welchen Menschen und mit welchem Regime wir es zu tun haben in Russland. Haben nicht diejenigen recht, die sagen, wenn man Putin gewähren lässt und die russische Armee, dann ist Putin nicht aufzuhalten. Dann werden immer mehr Menschen in Europa in Unfreiheit geraten und nicht mehr in einer Demokratie leben, sondern in einer Diktatur!

Das sind Entwicklungen, die wir nicht vorhersehen können. Was wir jetzt können, ist die bislang gestorbenen Toten zählen – diese Zahl ist gigantisch – und dann in der Tat eine Abwägung machen. Diese hängt sehr stark vom Weltbild ab.

Also: Was wird passieren, wenn? Darüber gibt es überhaupt keine sicheren Prognosen. Doch die äusserst pessimistischen Prognosen bestimmen im Moment das Geschehen, obwohl die Fakten so viel Pessimismus nicht hergeben. Deswegen würde ich erstmal sagen, dass wir bei der Entscheidung zwischen Optimismus und Pessimismus eine Wahlfreiheit haben. Man muss sich selber überlegen, wie man sich positioniert. Wenn man einen optimistischen Blick hat, sieht man eher die Chance, die optimistischen Wege zu finden, die man braucht, ohne diese unglaublichen Totenzahlen in Kauf zu nehmen.

In Ihrem Buch* plädieren Sie als Pazifist jedoch nicht für eine allgemeine Abrüstung

Schweren Herzens, aber doch mit grosser Überzeugung schlug ich am Ende des Buchs vor, dass wir der Gefahr, dass sich der russische Imperialismus noch weiter ausbreitet, etwas entgegensetzen müssen und können: Ich würde gerne stark investieren in dezidierte defensive Verteidigungssysteme an den NATO-Grenzen. Wir haben einen Beistandspakt. Wir haben einander versprochen, dass wir uns gegenseitig gegen Angriffe von aussen verteidigen. Und wenn wir sehen, wie lausig die russische Armee ausgestattet ist, und wie schlecht sie strategisch, taktisch, logistisch und so weiter unterwegs ist, dann bin ich sehr sicher, dass wir durch ein hinreichendes Mass an Abschreckungskräften an unseren Grenzen genügend massiv und martialisch stehen können, dass sich nur schon der Gedanke, uns da zu überrollen, von selber für jeden verbietet.

Das ist ein Signal jetzt auch mal an meine nicht-pazifistischen Gegner. Ich bin bereit, mit der Waffe zu drohen, weil dann die Kräfteverhältnisse so eindeutig zu unseren Gunsten sein werden, dass ich mir da keine grossen Sorgen um den Frieden zu machen brauche.

Ist das nicht die Logik des Kalten Krieges?

Das ist sie, und sie ist auf Dauer nicht stabil. Es ist keine Lösung für Jahrhunderte. Aber sie ist für den jetzigen Moment rational.

Heisst das in der Konsequenz nicht, dass man die russischen Truppen in der Ukraine gewähren lässt? 

Weil dieser Krieg nicht durch eine solche martialische Defensiv-Aktion verhindert werden konnte, ist dies das kleinere Übel. Es ist zwar entsetzlich, das zu sagen. Es wäre besser gewesen, man hätte diese Entscheidung bereits vor elf Monaten getroffen. Und noch besser wäre es gewesen, wenn sich die Ukraine seit der Annexion der Krim systematisch auf zivile Verteidigung vorbereitet hätte.

Irgendwann muss man ausbrechen. Wir sind jetzt an dem Punkt, wo die grosse Gefahr, die viele – denke ich – sehen, auch noch auf den Tisch gehört. Die Gefahr nämlich, dass unsere Waffenlieferungen so erfolgreich sind, dass die russische Seite glaubt, dass sie nicht nur diesen Krieg in der Ukraine verliert, sondern dass sie ganz am Ende ist. Und für diesen Fall, falls die Existenz Russlands auf dem Spiel steht, hat Putin explizit angedroht, Atomwaffen einzusetzen. Und davor fürchte ich mich.

Es scheint heute ja so, dass unsere Waffenlieferungen, die dauernd weiter gesteigert werden, ein experimentelles Herantasten an diesen Punkt sind. Bekommen wir es hin, die ukrainische Armee so stark auszurüsten, dass Russland den Krieg in der Ukraine verliert, und vielleicht auch lautlos in sich zusammensinkt, ohne dass es knallt? Können wir das so genau dosieren? Ich mache mir riesige Sorgen, dass wir das Wissen nicht haben, um diesen Prozess zu steuern. Wir sind schnell an einem Punkt, wo – wenn auch nur aus Versehen, weil alle nervös sind – der Atomkrieg ausbricht. Und das ist eine Gefahr, mit der wir nicht spielen dürfen. Hätten die Russen keine Atomwaffen, würde ich das ein bisschen anders sehen. Aber diese Gefahr ist einfach gigantisch, und die ist nicht aus der Welt.

Diese Gefahr können wir vielleicht verhindern, wenn wir zum richtigen Zeitpunkt – und den würde ich gerne noch mit Ihnen ausloten – auf diplomatische Bemühungen setzen. Deshalb die Frage: Welches ist der richtige Zeitpunkt?  

Es wird immer gesagt, dass es der ukrainischen Seite vorbehalten sei, zu entscheiden, wann und worüber verhandelt wird. Aber es ist klar, dass die Ansage «Wir kämpfen, bis wir gewinnen» auch den Zweck hat, die Kampfmoral hochzuhalten. Es ist keine Aussage, mit der wir aus diesem Krieg rauskommen. Es wird Kompromisse geben müssen. Und da sage ich: Je früher man anfängt, ernsthaft zu verhandeln, umso besser. Der Westen hat dabei natürlich einen Hebel. Denn er kann die Waffenlieferungen an Verhandlungsangebote knüpfen. Das machen wir bislang offiziell nicht. Ich hoffe, dass das hinter den Kulissen gemacht wird.

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Rote Linie für den Einsatz von (Atom-)waffen

upg. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der deutschen Bundeswehr, erklärte bei Anne Will, es gäbe keine rote Linien für einen russischen Einsatz von Atomwaffen: «Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Lieferung bestimmter Waffensysteme und einer nuklearen Eskalation. Wir haben es nicht in der Hand, wann Russland eskaliert.» Man müsse sich daran erinnern, dass die Atommächte Russland in Afghanistan und die USA in Vietnam auch schon Kriege verloren hätten, ohne Atomwaffen einzusetzen.

Allerdings handelte es sich dabei um Niederlagen, welche die Atommächte nicht als bedrohlich für ihre eigene Sicherheit einschätzten. Die Grenzen der Ukraine dagegen liegen in der Nähe von Moskau. Und den Marinestützpunkt Sewastopol auf der Krim, der Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion in einem bis zum Jahr 2042 laufenden Vertrag mit der Ukraine zur Nutzung überlassen wurde, betrachtet die Regierung in Moskau als Garantie, dass das Schwarze Meer nicht völlig unter die Kontrolle der NATO gerät. Die rote Linie Moskaus droht weniger durch gelieferte Waffensysteme überschritten zu werden, sondern durch militärische Angriffe auf die Krim und den Osten des Donbass.

Die bange Frage ist berechtigt: Was macht eine Atommacht, wenn sie ihre eigene Sicherheit als bedroht betrachtet?

Alle Grossmächte ziehen Rote Linien für militärische Einsätze. Die USA akzeptieren keine feindlichen Raketen in Nord-, Mittel- und Südamerika. Die «Monroe-Doktrin» gelte noch immer, erklären die USA. China akzeptiert keine offizielle Anerkennung der Unabhängigkeit Taiwans. Russland macht seit zwanzig Jahren klar, dass es einen NATO-Beitritt des Nachbarlands Ukraine nicht akzeptieren werde. Als der Westen schliesslich eine entsprechende ultimative Forderung ablehnte, bereitete Russland für alle sichtbar einen Angriff auf die Ukraine vor. Die Ukraine und die NATO blieben stur. Die rote Linie war für Moskau überschritten. Es kam zum Angriffskrieg.



Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

  • *Olaf Müller: «Pazifismus. Eine Verteidigung», Reclam-Verlag, 11.90 CHF (Taschenbuch), 5.50 CHF (e-Book) 6 Euro (Taschenbuch).

Prof. Dr. Olaf Müller

lehrt seit 2003 Philosophie (mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im WS 2016/17 hatte er eine Gastprofessor an der Keio-Universität (Tokyo) inne. Als Naturphilosoph und Wissenschaftstheoretiker versucht er, ein humanistisches Bild unserer Physik zu zeichnen – sie ist eine Wissenschaft von Menschen für Menschen. Infosperber lässt zur Meinungsbildung ergänzend Stimmen zu Wort kommen, welche die Fortsetzung des Krieges für riskant halten.

 

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