Syrien – wo Machtspiele die Menschenwürde geißeln

Über einen Konflikt, der bereits länger als der 2. Weltkrieg andauert

10. April 2017

von Elmar Widder

Liebe Leser,

für diejenigen, die Geopolitik gerne durch die rosarote Brille betrachten und schnell einen Schuldigen brauchen, ist dieser Artikel nichts. Und diejenigen, die die Realität nicht wahrhaben wollen, muss ich leider ebenfalls enttäuschen: Dieses mal gibt’s Klartext. Es wird nichts mehr beschönigt. Schalten wir doch endlich mal unser Gehirn ein und hinterfragen,  warum alles so ist, wie es ist. Letzten Dienstag, sprich am 05.04.2017, kamen bei einem Giftgasangriff in Chan Scheichun (Provinz Idlib) in Syrien wieder unschuldige Zivilisten ums Leben. Die entscheidende Frage ist, wer für diese Anschläge verantwortlich ist. Und wie sollte sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem schwierigen Konflikt verhalten?

Rechtliche Situation

Mal kurz gesagt, der Angriff der USA auf den Luftwaffenstützpunkt in Al-Schairat (Syrien) erfüllt den völkerrechtlichen Straftatbestand des Verbrechens der Aggression gemäß Artikel 5 Abs. 1 d in Verbindung mit Artikel 8 bis des Römischen Statutes (IStGH-Statut). Es ist mir als Völkerrechtler natürlich klar, dass die USA dieses Statut nicht ratifiziert haben und infolge dessen der Internationale Strafgerichtshof auch keine Zuständigkeit für die Verfolgung des Verbrechens besitzt. Nichtsdestotrotz stellt der US-amerikanische Raketenangriff einen Akt der Aggression dar und verstößt gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, das in Artikel 2 Abs. 4 dargelegt istDes Weiteren beschreibt Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung den Straftatbestand des Verbrechens der Aggression ziemlich genau. Auch die USA sind Mitglied der Vereinten Nationen – das Hauptquartier befindet sich sogar in New York.

Artikel 1 der Resolution 3314:

Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, wie in dieser Definition ausgeführt.

Artikel 3 der Resolution 3314:

Vorbehaltlich und nach Maßgabe der Bestimmungen des Artikels 2 gilt, ohne Rücksicht auf das Vorliegen einer Kriegserklärung, jede der folgenden Handlungen als Angriffshandlung:

[…]

b) die Beschießung oder Bombardierung des Hoheitsgebietes eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder der Einsatz von Waffen jeder Art durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates;

Rückblick

Der Konflikt in Syrien begann bereits im März 2011. Im Zuge des so genannten arabischen Frühlings forderten Teile der sunnitischen Bevölkerung in Syrien mehr Freiheit und Demokratie. Was uns in den Mainstream-Medien jedoch nicht mitgeteilt wurde, waren zwei Dinge:

Erstens, der größere sunnitische Teil der syrischen Bevölkerung repräsentiert zwar eine Mehrheit, jedoch nicht die komplette Bevölkerung. Es gibt demzufolge auch kein „Gut oder Böse“. Die romantische Vorstellung, das syrische Volk habe sich einheitlich gegen den Machthaber Assad zusammengeschlossen entspricht nicht der Realität. Viele Minderheiten fürchten sogar eine Machtübernahme der Rebellen, unter denen sich  auch radikale Gruppierungen wie zum Beispiel die Al-Nusra Front befinden.

Zweitens haben dritte Staaten wie z.B. Katar und Saudi-Arabien Geld bereit gestellt, um diese vermeintlich „friedliche“ Bewegung mit Waffen zu unterstützen (Quelle: Die Wirtschaftswoche). Solche Handlungen sind ebenfalls völkerrechtswidrig.

Problematisch im Rahmen der „friedlichen“ Demonstrationen waren insbesondere Vorfälle, bei denen Institutionen des syrischen Staates (z.B. Polizeistationen etc.) angegriffen wurden. In Syrien leben ca. 22 Millionen Menschen. 70% davon sind muslimische Sunniten. Daneben gibt es aber auch noch Minderheiten wie zum Beispiel rund 3 Millionen muslimische Alawiten (Schiiten) und 2 Millionen Christen.

Ein falsches Bild der tatsächlichen Situation

Dr. Micheal Lüders erklärte zunächst im ZDF (später auch bei der ARD) die Lage in Syrien sehr treffend, als er von einem „Krieg der Deutung der Bilder“ und einem „gegenseitigen Fingerzeigen“ sprach (Quelle: ZDF Mediathek). Lüders setzte den Syrienkonflikt in einen weltpolitischen Kontext und nannte zunächst die Konfliktparteien. Deutschland ist natürlich auch mit von der Partie, als Teil der westlichen Koalition, die aus dem Imperium der USA, der EU mit dem NATO-Partner Türkei und den Golfstaaten (Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate) besteht. Diese westfreundliche Koalition agiert gegen die Interessen einer anderen Seite: Russland, den syrischen Präsidenten Assad und den Iran; auch China könnte hier im erweiterten Kreis genannt werden.

Was die Situation noch verschärft

Im Persischen Golf sind viele Rohstoffe vorhanden. Um das vorhandene Erdöl und Erdgas entsprechend zu fördern, existieren seit längerer Zeit Pläne, eine Pipeline zu bauen. Da unter den Anrainer-Staaten aber ein politischer Interessenkonflikt herrscht, ist auch der Verlauf der Pipeline ein strittiges Thema. Auf der einen Seite stehen die Golf-Monarchien (Katar, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate), auf der anderen Seite steht der der Iran. Der Irak steckt immer noch in einer Krise und in Mossul kämpfen unter anderem auch US-Soldaten (Quelle: ntv). Für die Golf-Monarchien wäre eine Pipeline über das Transitland Syrien, regiert von einer westfreundlichen Regierung, die wirtschaftlich lukrativere Lösung. Und auch dieser Punkt trägt zum Machtspiel in Syrien bei: Wenn das Assad-Regime gestürzt wäre, könnte der Westen den Zufluss von Rohstoffen nach Europa aus dem Nahen Osten kontrollieren.

Deutungshoheit der Bilder

Generell sind wir alle oft zu schnell mit Rückschlüssen und lassen uns von emotionalen Bildern leiten. Lüders spricht von „einer emotionalen Wucht der Bilder, die politisch instrumentalisiert werden“. Die USA haben diese Methode schon mehrfach im UN-Sicherheitsrat angewendet. Man erinnere sich an Colin Powells Auftritt, als er ein Plastikröhrchen im Sicherheitsrat hochhielt, um Massenvernichtungswaffen im Irak nachzuweisen. Ein Jahr später gab er den Fehler zu, der Irak wurde aber trotzdem angegriffen (Quelle: Welt.de). Heute weiß man: Hätte man Saddam-Hussein nicht gestürzt, gäbe es auch keine Terrormiliz ISIS. Ich nehme das Assad-Regime NICHT in Schutz, denn es ist bekannt, dass Bashir al-Assad mit harter Hand gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Dennoch muss man auch die Handlungen der USA objektiv im Rahmen des gegebenen Völkerrechts betrachten.

Die Bilder letzter Woche und der Schnellschuss der USA

Die US-Botschafterin der Vereinten Nationen, Nikki Haley, kritisierte die Giftgasattacke in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 06.04.2017, also nur einen Tag nach dem Giftgasangriff in Chan Scheichun und hatte ganz nebenbei die Schuldfrage schon beantwortet: Verantwortlich für die chemische Attacke war das Assad-Regime.

Ihr Wortlaut (Quelle: YouTube, ab 00:43):

On Tuesday, the Assad regime launched yet another chemical attack on civilians, murdering innocent men, women and children in the most gruesome way. Übersetzt klingt das Ganze so: „Das Assad-Regime hat am Dienstag durch einen weiteren chemischen Angriff unschuldige Männer, Frauen und Kinder auf abscheuliche Art und und Weise ermordet.“

An dieser Stelle möchte ich drei Dinge erwähnen:

    1. Auch ich verurteile den Angriff auf das Äußerste. Solche Attacken sind einfach nur widerwertig, abscheulich, ekelhaft und man muss sich wirklich fragen, wo hier der letzte Funke Achtung geblieben ist. Wer auch immer das getan hat, muss zur Rechenschaft gezogen werden – so viel steht fest.
    2. Die entscheidende Frage ist jedoch: Wer ist für diese schreckliche Attacke verantwortlich? Kurz: Wer war es? Und wer sichert die Beweise? Kann man dort überhaupt noch Beweise sichern? Das ist kein gewöhnlicher Tatort, zu dem man so mir nichts dir nichts die Spurensicherung (KTU) hinschickt. Glauben Sie mir, bei internationalen Strafgerichtshöfen dauern Ermittlungen im Regelfall sehr lange an. Sehr lange können Jahre sein. Es ist in der Praxis also schier unmöglich, innerhalb von 24 Stunden ein präzises Urteil zu fällen.
    3. Wenn Frau Haley die Worte „ein weiterer chemischer Angriff des Assad-Regimes“ wählt, auf welche konkreten Beweise bezieht sich dann genau? Etwa auf den Verdacht, dass auch Rebellen bzw. Dschihadisten chemische Waffen einsetzten?

Carla del Ponte, die ehemalige Chefanklägerin des Interantionalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (kurz ICTY) äußerte bereits 2013, dass auch die Terrorgruppen, die das Assad-Regime bekämpfen, den chemischen Kampfstoff Sarin einsetzten (Quelle: blick.ch). Jan van Aken bestätigte diese Aussage gestern in der ARD und äußerte, es sei „völlig unklar, wer in Idlib das Saringas eingesetzt hat“ (Quelle: YouTube).

Eine weitere logische Denkfrage:

Warum sollte das Assad-Regime einen solch niederträchtigen Anschlag verüben, wenn der US-Außenminister Rex Tillerson noch am 31.03.2017 – also ein paar Tage vor dem Angriff – bekräftigt, dass Assads „Schicksal in der Hand der syrischen Bevölkerung“ selbst läge. Die USA verhielten sich bis Ende März 2017 bezüglich der Assad-Frage nämlich sehr diplomatisch (Quelle: Reuters). Doch dann folgte plötzlich eine politische Kehrtwende.

Weitere offene Fragen

Hat die Kehrtwende in der US-Syrien-Politik auf irgendeine Art und Weise mit einem Wechsel im Weißen Haus zu tun? Der umstrittene Berater Stephen Bannon wurde erst kürzlich aus dem Nationalen Sicherheitsrat abgezogen (Quelle: New York Times). Des Weiteren wurde Trumps nationaler Sicherheitsberater Flynn durch General McMaster ersetzt (Quelle: New York Times). Eines ist jedoch sicher: Die Tatsache, dass die US-Regierung Russland vorwarnte, ändert nichts am Tatbestand der Aggression selbst. Die Aussagen unserer Verteidigungsministerin von der Leyen bei der ARD waren nahezu abenteuerlich. Sie sprach von einem „Warnschuss“, der „vertretbar“ sei. Ebenso erschreckend war die Einschätzung des ehemaligen US-Botschafters in Deutschland, John Kornblum, der Herrn Lüders Aussagen als Verschwörungstheorien bezeichnete. Weiterhin sei das  „Völkerrecht nichts Geschriebenes,“ sondern „Etwas, das auf Grund von Gegebenheiten passiert.“ (Quelle: YouTube). Dazu kann man nur sagen: Prost, Mahlzeit. Dann werfen Sie doch einfach die ganzen UN-Resolutionen inklusive der UN-Charta in die Donau, weil wenn diese GESCHRIEBENEN Regeln für alle Länder dieser Welt gelten sollen, nur nicht für die USA, dann sind sie sozusagen wertlos. Da ist er wieder, George Orwell: Manche Länder sind gleich und andere sind eben gleicher.

Wie sollte sich Deutschland in diesem politischen Wirrwarr verhalten?

Da zu dem Zeitpunkt des US-Angriffs noch überhaupt nicht geklärt werden konnte, wer denn nun letztendlich für den Giftgas-Angriff in Idlib verantwortlich ist, hätte sich die Kanzlerin kritischer gegenüber dem US-amerikanischen Angriff äußern müssen. Dazu fehlte ihr leider das Rückgrat. Schnell war man sich mit den westlichen Veto-Mächten des UN-Sicherheitsrates einig: Verantwortlich für den Giftgasangriff war das Assad-Regime. Mir fehlt hier die Objektivität. Deutschland muss sich nicht immer aus Prinzip den westlichen Veto-Mächten des UN-Sicherheitsrates anschließen, sondern könnte solche Angelegenheiten differenzierter betrachten. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was ich im Bundestag anders machen würde, dann Folgendes:

Ich würde NEIN zu Waffenlieferungen in Höhe von 750 Millionen Euro an Saudi-Arabien sagen. (Quelle: Rüstungsexportbericht 2016 der GKKE, Seiten 12/13)

Ich würde NEIN zu den Waffenlieferungen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro nach Katar sagen. (Quelle: Rüstungsexportbericht 2016 der GKKE, Seiten 9/10)

Und ich wäre generell vorsichtiger, Waffen in Länder zu liefern, die Oppositionellen in Syrien den Rücken stärken, denn die so genannten „gemäßigten Rebellen“ sind teilweise Dschihadisten, mit denen man nicht einfach mal so am Frühstückstisch gemütlich eine Tasse Kaffee trinkt. Sollte das Assad-Regime für den Giftgasangriff verantwortlich sein, dann sind wir indirekt sowieso mitschuldig. Denn dass deutsche Firmen beim Aufbau des syrischen Giftgas-Programms eine größere Rolle spielten, steht eindeutig fest (Quelle: Tagesspiegel). Wer also die entsetzlichen Bilder aus Syrien ganz schrecklich findet, darf sich gerne auch mal fragen, ob er bereit ist, noch einmal für eine Partei zu stimmen, die solchen Waffenverkäufen zustimmt. Damit meine ich ALLE Regierungsparteien – da braucht sich keiner aus der Verantwortung stehlen.

Bleiben Sie wachsam, denken Sie nach!

Der letzte Kommentar muss genehmigt werden.
1 Antwort
  1. Sarah sagte:

    Herr Lüders wurde in die ARD-Sendung von Anne Will als Nahost-Experte eingeladen. Seine Aussagen wurden als Verschwörungstheorie eingestuft. Warum macht man das? Man müsste Herrn Lüders doch zugestehen – wenn er schon vor Ort lebt und arbeitet, mit internationalen Unternehmern agiert und noch dazu Islamwissenschaften studiert hat – dass seine Erfahrungen und Ansichten genauso gleichberechtigt sind wie die von Herrn Kornblum. Dass man als ehemaliger US-Botschafter eine andere Meinung bezüglich der Ursachen für den Konflikt in Syrien hat, liegt doch auf der Hand.

    Trotzdem werden meiner Auffassung nach die Worte „Verschwörungstheorie“ oder „Verschwörungstheoretiker“ mittlerweile als sprachliches Instrument der Diffamierung verwendet. Das Ziel der Anwendung solcher Wörter ist, eine gewisse Person aus dem Diskurs zu nehmen bzw. sie oder ihn als nicht gleichberechtigten Gesprächspartner darzustellen. Die Zuschauer sollen also gar nicht mehr hinhören, was Herr Lüders sagt. Das funktioniert gut, weil man mit „Verschwörungstheorien“ sehr oft Dinge wie den Weltuntergang, Ufos oder andere mysteriöse Ereignisse assoziiert. Man spricht dem „Verschwörungstheortiker“ also seine Kompetenzen ab und bindet ihn nicht mehr als gleichwertiges Mitglied in die Diskussion ein. Er ist sozusagen nur noch „toleriert“.

    Dann muss man sich aber fragen, ob man grundsätzlich überhaupt an einem objektiven Gedankenaustausch und konstruktiven Dialog mit Andersdenkenden interessiert ist, oder ob solch politische Debatten eher der Stärkung der etablierten Meinung über die NATO-Einsätze dienen sollen.

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