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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Berg-Karabach: Droht auf dem Kaukasus ein weiteres Srebrenica?

Im Krieg auf Berg-Karabach sieht sich Aserbaidschan bereits als Sieger und fordert mit Nachdruck die Totalkapitulation Armeniens.

03. November 2020

von Amalia van Gent

Ende Oktober richtete Arayik Harutyunyan einen dramatischen Appell an die Bürger Berg-Karabachs: Die türkisch-aserbaidschanischen Kräfte seien nur noch wenige Kilometer von Schuschi entfernt, sagte er in einer am 29. Oktober über Facebook verbreiteten Video-Botschaft. Alarmiert fügte er hinzu: Ziel sei es, die Armenier gänzlich aus Berg-Karabach zu vertreiben. Arayik Harutyunnyan, erst letzten Februar bei freien Wahlen zum Präsidenten dieser völkerrechtlich nicht anerkannten, seit 1994 aber de facto bestehenden kleinen Republik gewählt, flehte seine Bürger an, «unser Schuschi, unsere Republik und unsere nationale Würde» zu verteidigen. Denn wer «Schuschi kontrolliert, kontrolliert auch Artschach [armenischer Name für Berg-Karabach]».

Waffenruhen ohne Bestand

Die legendäre Stadt Schuschi, oder Schuscha in aserischer Sprache, liegt auf einem hohen Kalksteinplateau und blickt gegen Süden hinunter auf die sanften Hänge Stepanakerts, der Hauptstadt Berg-Karabachs. Ursprünglich von Armeniern und Aserbaidschanern besiedelt, machte Schuschi im 18. und 19. Jahrhundert durch seinen regen Handel, den ausserordentlichen Reichtum seiner Bewohner sowie den kunstvollen Kathedralen, Moscheen und schönen kaukasischen Häusern von sich reden. Einheimische bezeichneten Schuscha auch als «Stadt der Träume».

Diesem multikulturellen Charakter wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber ein unwiderrufliches Ende gesetzt: Der osmanische Feldherr Nuri Pascha hätte 1918 im Auftrag der Jungtürken die Armee der jungen unabhängigen Republik Aserbaidschan ausbilden sollen, wurde aber von der vorrückenden sowjetischen Roten Armee geschlagen. Auf seinem Rückzug liess der gedemütigte Pascha 1920 in Schuscha sämtliche armenischen Viertel mitsamt den historischen Kathedralen und Kirchen in Brand stecken und bis zu 20’000 Armenier niedermetzeln. Das Gewaltverbrechen von Schuscha sowie der Genozid von 1915, bei dem über eine Million Armenier des osmanischen Reichs ums Leben kamen, sollten fortan das armenische Kollektivbewusstsein tief prägen. Jede «Konfrontation mit dem Türken», und damit sind auch die Aserbaidschaner gemeint, ruft in ihnen eine Urangst vor ihrer totalen existenziellen Vernichtung wach.

«Die Artillerie- und Raketeneinschläge hielten in Stepanakert und Schuscha pausenlos die ganze Nacht hindurch an», schrieb die armenische Journalistin Lika Zakaryan am 1. November. Zakaryan veröffentlicht seit Beginn des Kriegs für die Agentur Civilnet ein Tagebuch aus ihrer Heimat Stepanakert. Am 1. November besuchte sie das von Raketen getroffene Entbindungsspital, wo ihre Mutter als Krankenschwester arbeitet. «Ich zitterte am ganzen Körper», schreibt sie. Dabei hatten sich beide Konfliktparteien in Genf gerade zu einer «humanitären Waffenpause» verpflichtet, um ihre Gefangenen auszutauschen und die vielen Toten zu bergen. In einem knappen Monat Krieg «haben wir eine ganze Generation von Männern verloren, die zwischen 2000 und 2002 geboren worden sind», hielt sie in einem anderen Tag fest. «Sie machten die bestausgebildete Generation und die Zukunft Karabachs aus». Der für Armenien überraschende und von der Türkei auch militärisch getragene Krieg auf Berg-Karabach hat die kleine Republik und ihre 2,5 Millionen Bürger wirtschaftlich und politisch ruiniert.

Seit Beginn des Kriegs einigten sich die Vertreter Aserbaidschans und Armeniens vier Mal auf eine Waffenruhe. Keine hielt länger als ein paar Minuten. Beide Seiten beschuldigten sich dabei gegenseitig, die Waffenruhe als erste verletzt zu haben – und beide Seiten hätten gute Gründe dafür: Von seinen militärischen Erfolgen beflügelt, will der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew viele territoriale Gewinne erzielen, bevor er überhaupt grünes Licht gib für eine anhaltende Waffenruhe. Doch genau dies will die armenische Seite verhindern. Inzwischen werden beide Kriegsparteien von internationalen Organisationen beschuldigt, auch geächtete Waffen wie Streubomben gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt zu haben.

Neues Kräftegleichgewicht in der Region

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew wähnt sich mittlerweile als Sieger. Er ist sich bewusst, dass das Kräftegleichgewicht in der Region nicht mehr dasselbe ist wie früher, seit sich die Türkei in diesem Krieg als einziger aussenpolitscher Akteur politisch wie militärisch klar auf seine Seite schlug. «Es gibt neue Realitäten vor Ort», sagte er im Gespräch mit der russischen Presse und bot Moskau selbstsicher eine «aktive Zusammenarbeit zwischen der Türkei, Iran, Russland und Aserbaidschan» an. Armenien als Gesprächspartner kam in seinen ausführlichen Erklärungen nicht mal vor. Alijew und die Türkei setzen nun auf einen totalen Abzug aller armenischen Truppen vom gesamten Territorium Aserbaidschans, auch aus Berg-Karabach, und auf ein türkisches Mitspracherecht im Kaukasus.

In der etwas einfacheren Sprache des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan werden die Forderungen Bakus und Ankaras folgendermassen zusammengefasst: «Ich sagte Putin, lass uns gemeinsam diesem Konflikt ein Ende setzen», informierte er Ende Oktober die Presse über sein Telefongespräch mit dem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. «Sprich Du mit dem armenischen Regierungschef und ich spreche mit meinem Bruder Ilham Alijew. Du und ich treffen die Entscheidung, ob wir den Konflikt beenden oder nicht. Und bestimmen gemeinsam unsere jeweiligen roten Linien.» Eine Lösung also, wie sie sich zwei mächtige Männer auf gleicher Augenhöhe unter sich auszumachen pflegen.

Ob Putin auf dieses Angebot eingeht, ist unklar. Jedenfalls hat er sich bislang für seinen vermeintlich «strategischen Alliierten» Armenien kaum in die Bresche geworfen. Als der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan letztes Wochenende Moskau darum bat, dringende Konsultationen einzuleiten, um die Art und Höhe der russischen Hilfe zu Gewährleistung seiner Sicherheit einzuleiten, fiel die Antwort aus Moskau auch diesmal kühl aus: Russland werde die «notwendige Hilfe» leisten, wenn die Kämpfe armenisches Territorium erreichten, hiess es vage.

In Armenien wird man den Eindruck nicht los, dass Putin dem armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan eine Lektion erteilen wolle, weil Armenien mit seiner sogenannten «samtenen Revolution» die jüngste Demokratisierungsbewegung im Einflussgebiet Putins eingeleitet hatte. Wie in diesen Tagen in Belarus, zogen im Frühling 2018 Abertausende Armenier auf die Strasse und demonstrierten für einen demokratischen Wandel. Schliesslich gelang es ihnen, das Ende ihrer korrupten Regierung friedlich herbeizuführen. Diese Art von Machtwechsel wird in Moskau aber kaum goutiert.

EU und NATO bleiben untätig

Nicht nur Moskau schaut vom Kriegsschauplatz auf dem Kaukasus weg: Die EU war Mitte Oktober zwar emsig damit beschäftigt, schmerzhafte Sanktionen gegen den Hof des Autokraten Lukaschenko zu bestimmen, weil dieser den demokratischen Wandel in ihrem Land mit harter Repression unterdrückt. Zu Recht. Aber Sanktionen gegen die Türkei, einem EU-Beitrittskandidaten, lehnen die Grossen der EU, vor allem Deutschland und Spanien, strikt ab. Selbst Exporte von Rüstungsgütern in die Türkei wollen sie nicht einschränken.

Mitte Oktober, als auf Berg-Karabach die Opferzahlen unter Soldaten in die Höhe schnellten, traf der armenische Präsident Armen Sarkissjan den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu einem Besuch. Er hoffte, die NATO könne die Türkei dazu bewegen, in diesem Krieg zumindest ihre militärische Unterstützung für Aserbaidschan einzustellen. Die Türkei ist seit 1952 NATO-Mitglied. Doch Jens Stoltenberg habe auch in dieser Sache die «Neutralität» des Bündnisses bekräftigt, schrieb die Zeitung «Sabah», das Leibblatt des türkischen Präsidenten.

Die Neutralitätsbekundungen der NATO sind aus Sicht der Betroffenen wohl ein schlechter Witz: Von Phantasien über eine Wiederherstellung der osmanischen Grösse gejagt, liess der türkische Präsident Erdogan seine Truppen nach 2016 dreimal völkerrechtswidrig ins Nachbarland Syrien einmarschieren. Die Operation gegen die Kurden in Efrin trieb mindestens 150’000 Menschen und jene in Nordostsyrien über 250’000 auf die Flucht. Der Besitz der Vertriebenen wurde beschlagnahmt oder geplündert. Dabei hatten die Kurden die Dschihadisten des sogenannten «Islamischen Staats» (IS) geradezu besiegt, damit auch Europa vor Terroranschlägen des IS in Ruhe schlafen konnte. Auch jener Kampf hat die NATO nicht zu ihren Gunsten überzeugen können. Erdogans Armee führt heute Krieg in Syrien, in Libyen und in Nordirak und mischt auch auf der Kaukasus-Front mit.

Ein neues Srebrenica?

Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu besuchte letztes Wochenende Aserbaidschans Hauptstadt Baku. «Wir sind stolz auf eure Erfolge auf dem Schlachtfeld», lobte er in aller Öffentlichkeit das aserbaidschanische Militär, denn: «Ihr habt der ganzen Welt die Schlagkraft eines Türken gezeigt.» Nun marschieren Bakus Truppen in Richtung Schuschi / Schuscha. Eine Rückeroberung dieses ehemals multikulturellen Zentrums würde für den aserbaidschanischen Präsidenten Alijew nämlich mehr als jede andere Stadt auf Berg-Karabach die Krönung seines totalen Siegs über Armenien bedeuten.

In der internationalen Presse ist inzwischen von einem neuen «Srebrenica» die Rede, und von neuen ethnischen Säuberungen. Die Bezeichnung «ethnische Säuberung» dürfte allerdings heute kaum zutreffen. Bis zum Ausbruch des Kriegs am 27. September betrug die Bevölkerung Berg-Karabachs rund 140’000 Personen – mit Ausnahme weniger Russen allesamt Armenier. Davon sind bis zu 60’000, meist Frauen, Kinder und Alte, bereits auf der Flucht. Die meisten im Mutterland Armenien, wo sie mittellos bei Verwandten unterzukommen suchen. Die übrigen Zurückgebliebenen sind meist Männer, die dem Aufruf ihres Präsidenten folgen und «ihre Republik» verteidigen wollen. Kann sich Europa ein neues Gemetzel, ein neues Srebrenica, leisten, selbst wenn dies im fernen Kaukasus liegt?

Armenien sieht sich indessen als Bauernopfer der internationalen Gemeinschaft in einem neuen regionalen Machtpoker. Wenige wie die Geschäftsfrau Aelita Tschobanjan hoffen, dass sich in Europa irgendwann eine neue «Carla Del Ponte» finden werde, welche Erdogan für die Zerstörung so vieler Existenzen – ob in Syrien oder im Nordirak und nun in Armenien – vor einem internationalen Gericht zur Verantwortung zieht.

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Siehe auch:

Amalia van Gent

arbeitete von 1988 bis 2010 als Korrespondentin der Neuen Züricher Zeitung. Sie berichtete über die Türkei sowie über die Kaukasusstaaten. Zudem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Heute sind ihre Beiträge relemäßig auf der Onlineplattform www.infosperber.ch zu finden.

 

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