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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Ukraine: Das Spiel mit dem Feuer

US-Analysten fordern in führenden Zeitschriften einen langen Abnützungskrieg in der Ukraine, um Russland in die Knie zu zwingen.

22. Juli 2022

von Helmut Scheben

Foreign Affairs, das renommierte aussenpolitische Magazin der USA, bringt am 12. Juli einen Beitrag von Kirstin Brathwaite und Margarita Konaev unter dem Titel «The Real Key to Victory in Ukraine».  Der Titel ist irreführend, denn im Beitrag räumen die Autorinnen ein, dass es wahrscheinlich keinen Sieg über Russland, sondern eine Verhandlungslösung geben werde. Dessenungeachtet kommen sie zu dem Schluss, «militärische Unterstützung des Westens» sei jetzt wichtiger denn je. «Sustainment» sei das Gebot der Stunde. Es gelte, die Ukraine mit den nötigen schweren Waffen, Drohnen und «electronic warfare systems» auszurüsten, um Russland in einem Zermürbungskrieg entscheidend zu schwächen. («In a conflict that is likely to end with a negotiated settlement, sustainment could provide vital leverage for Ukraine.») 

Die beiden Autorinnen waren bereits im April hervorgetreten mit einer Analyse in Foreign Policy, der anderen führenden, meinungsbildenden Zeitschrift der USA. Dort diagnostizierten sie, die russischen Streitkräfte agierten mit einem «Mix aus Inkompetenz und Brutalität», weil sie für die hohen Verluste im Häuserkampf nicht vorbereitet seien. Russland werde wahrscheinlich in der Ukraine scheitern. Von einem «negotiated settlement» war damals noch nicht die Rede.

Drei Monate später tönt es nun anders. Es wäre nicht das erste Mal, dass Eskalation und Durchhalteparolen dem Gang zum Verhandlungstisch vorausgehen.

Beide Autorinnen sind über ihre Arbeit in verschiedenen Forschungsinstituten mit der Sicherheits- und Militärbranche verbunden. Konaev beispielsweise arbeitet in der Georgetown State University, etwa acht Taxi-Minuten vom Pentagon entfernt, unter anderem im Center for Security und Emerging Technology. 

Dieser Think Tank wurde 2019 von Jason Gaverick Mathey gegründet, seit neustem CEO und Vorsitzender der Rand Corporation, der renommiertesten Denkfabrik des Pentagons. Mathey war zuvor einer von Präsident Bidens Sicherheitsberatern im Weissen Haus und hat enge Verbindungen zu den US-Geheimdiensten. Das Polit-Magazin Foreign Policy nannte den Mann 2018 einen «der 100 wichtigsten globalen Denker». Die Rand Corporation hatte 2019 eine Studie publiziert, die eine Strategie zur Destabilisierung Russlands formulierte. 

In die gleiche Kerbe wie Brathwaite und Konaev schlägt in diesen Tagen Dan Altman, ein auf internationale Konflikte spezialisierter Politologe, ebenfalls von der Georgetown University. Er fordert – bildlich gesprochen –, die Nato müsse mehr Oel ins Feuer giessen, damit der Brand weitergehe. Nur müsse es eben immer gerade so viel Oel sein, dass kein globaler Grossbrand entstehe.

Spekulieren über die «rote Linie»

Altmans Beitrag in Foreign Affairs trägt den Titel «The West Worries Too Much About Escalation in Ukraine». Er schlägt vor, Russland moralisch und militärisch aufzureiben, indem man den Kreml ständig nahe an seiner Toleranzgrenze provoziere. Solange man dabei eine «rote Linie» nicht überschreite, riskiere die Nato keinen Krieg mit Russland. Diese rote Linie, so spekuliert Altman, werde erst überschritten, wenn die Nato direkt auf russische Truppen feuere oder offizielle Nato-Einheiten in der Ukraine kämpften. 

Empfehlenswert sei also alles unterhalb der roten Linie. Laut Altmann vor allem die massenhafte Entsendung von «freiwilligen» Kombattanten in die Ukraine und die Lieferung von Panzern und Kampfjets. Die 155mm-Haubitzen und die Mehrfach-Raketensysteme, welche die ukrainische Armee derzeit von der Nato bekomme, seien völlig unzureichend. 

Altman argumentiert mit «historischen Lektionen»: Die USA hätten im Kalten Krieg mit einer mutigen Strategie der limitierten Eskalation stets Erfolg gehabt. Als Beispiele nennt er unter anderen den Korea-Krieg, die Kuba-Krise, Afghanistan oder Syrien. 

Eine Logik, der man schwer folgen kann. Sollte Altman entgangen sein, dass in der Kuba-Krise das kluge Management von Kennedy und Chruschtschow zur Folge hatte, dass nicht nur die Insel vor der Küste von Florida atomwaffenfrei blieb, sondern dass auch Moskau sein Ziel erreichte? Die USA sahen sich gezwungen, die Atom-Raketen abzuziehen, die die Nato in der Türkei vor der Haustür von Russland stationiert hatte.  

Sollte Altman des Weiteren entgangen sein, dass es bis heute keinen Friedensvertrag zwischen Süd- und Nordkorea gibt und dass das letztgenannte Land in Washington seit nunmehr siebzig Jahren unentwegt als ungelöstes Problem betrachtet wird? 

Was Afghanistan angeht, so kann sich der Westen dort nach den Interventionen des letzten halben Jahrhunderts wohl nicht mit einer Erfolgsbilanz rühmen. Und was Syrien betrifft – Altman nennt Aleppo –, ist es absurd, von einem Erfolg der USA zu reden. Die politische, militärische und finanzielle Hilfe des Westens für den Aufstand hat zwar einen langen Krieg bewirkt und das Land kaputt gemacht. Der geplante Regime Change blieb jedoch aus, was einer Niederlage der USA gleichkommt. 

Die Vorstellung, dass man Russland mit einem Hasardspiel an der roten Linie «zermürben» könne, ist nicht realistisch. Denn nicht die NATO bestimmt, wo Russlands rote Linie liegt, sondern Russland. Das zeigt auch der Ukraine-Konflikt. Der Versuch, die Ukraine mit der EU zu assoziieren und in die NATO zu führen, hat aus Sicht Moskaus eine rote Linie überschritten. Einige Osteuropa-Experten hatten gewarnt, dass dieser Versuch die Ukraine zerreissen würde. Aber Washington und Brüssel wollten Russlands rote Linien offensichtlich testen. 

Aussenministerin Hillary Clinton verspekulierte sich mit Russlands roter Linie in Syrien

Die ehemalige Aussenministerin Hillary Clinton, schrieb 2012 in einer (von Wikileaks ins Netz gestellten) Mail, «Assad zu beseitigen wäre nicht nur ein unermesslicher Segen für die Sicherheit Israels, es würde auch die verständlichen Ängste Israels mindern, sein nukleares Monopol zu verlieren». Denn hinter Syrien stünde der Iran. 

Das mit Syrien verbündete Russland, so Clinton damals, werde wahrscheinlich stillhalten und sich fügen, so wie Russland auch im Kosovo-Krieg, als die Nato Serbien bombardierte, «wenig mehr getan hat, als sich zu beklagen».

Eine folgenschwere Fehleinschätzung. Dass Russland drei Jahre später dem Hilfsersuchen Assads stattgab und – im Gegensatz zum russischen Angriff auf die Ukraine – völkerrechtskonform in Syrien militärisch intervenierte, war eine böse Überraschung für die USA und ihre Alliierten. Der ehemalige Schweizer Botschafter in Syrien, Kurt O. Wyss, nannte es «ein grandioses Scheitern der Politik der USA». Er sah die Folgen voraus: «Weil man diese Niederlage nicht offen eingestehen kann, wird das westliche Kesseltreiben gegen Russland erhöht. Damit soll die russische Anmassung bestraft werden, die amerikanische Hegemonialstellung im Nahen und Mittleren Osten erfolgreich herauszufordern.» (Kurt O.Wyss: Die gewaltsame israelisch-amerikanische «Neuordnung» des Vorderen Orients. S. 164)

Heute plädieren Analysten aus dem Umfeld des Pentagons – wie oben beschrieben – in massgebenden aussenpolitischen Publikationen für einen langen Abnützungskrieg. Von Diplomatie ist wenig zu hören. Kritische Stimmen, welche die unbegrenzte Aufrüstung der Ukraine und die Verlängerung des Krieges für aussichtslos halten und auf Verhandlungen drängen, gehen in den USA derzeit unter. 

Zumindest die grossen, renommierten Blätter wie New York Times und Washington Post sind offensichtlich eingeschwenkt auf die offiziellen Durchhalte-Parolen. Dass man den Russen ein «zweites Afghanistan» bereiten könnte, war bereits Stunden nach der russischen Invasion in der Ukraine Gegenstand der öffentlichen Debatte. Nun kommen in der NYT «Militäranalysten» zu Wort, welche die gleichen Lehrsätze verbreiten wie die oben zitierten Expertinnen und Experten: Die Russen müssten in den «Albtraum des Häuserkampfes» gelockt werden, dann werde der Krieg in einer schmerzhaften Niederlage Russlands enden.

Stimme eines Aussenseiters: «Verantwortungslos, auf eine militärische Lösung zu setzen»

Scott Ritter, ein ehemaliger Offizier des US-Marine Corps und späterer UN-Waffeninspektor im Irak, ist einer der Waffen-Experten, die solche Vorstellungen für eine gefährliche Illusion halten. Ritter schreibt in Consortiumnews, einer Publikation von Veteranen der US-Geheimdienste, es sei verantwortungslos, auf militärische Lösungen zu setzen: 

«In Brüssel muss man sich fragen, wie lange die USA und die NATO die ukrainische Armee noch bluten lassen wollen und zu welchem Preis? Jeder vernünftig denkende Mensch muss doch einsehen, dass es darauf nur eine Antwort gibt. Der Westen muss angesichts des sicheren russischen Sieges aufhören, die selbstmörderische Phantasie der Ukrainer zu nähren, sie könnten mit mehr Waffen den Sieg erringen.»  

Ritter verweist auf eine Rede von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der in Finnland Mitte Juni zu andeutete, dass ein Frieden in der Ukraine nur zu haben sei, wenn Kiew territoriale Zugeständnisse mache:

«Welchen Preis wird die Ukraine für den Frieden zu zahlen haben? Wieviel Territorium, wieviel Unabhängigkeit und wieviel Souveränität ist ihr der Friede wert?»

Stoltenberg führte das Beispiel Finnlands an. Das Land habe den Zweiten Weltkrieg nur als unabhängige, souveräne Nation überstehen können, weil es der Sowjetunion territoriale Konzessionen gemacht habe. Möglicherweise ist selbst in der NATO ein vorsichtiges Umdenken im Gange. Der ukrainische Präsident Selensky, der von der massiven Unterstützung der USA abhängig ist, folgt bisher den in Washington dominierenden Hardlinern. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Dr. Helmut Scheben

war von 1980 bis 1985 als Presseagentur-Reporter und Korrespondent in Mexiko und Zentralamerika tätig. Ab 1986 war er Redakteur der Wochenzeitung (WoZ) in Zürich, von 1993 bis 2012 Redakteur und Reporter im Schweizer Fernsehen SRF, davon 16 Jahre bei der Tagesschau. Dr. Scheben schreibt unter anderem auch für den Infosperber.

 

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