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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.
Verbindet sich der Westen die falschen Finger?
Die massive mediale und finanzielle Unterstützung des Westens zugunsten Nawalnys kann einen unbeabsichtigten Effekt haben.
30. Januar 2021
von Christian Müller
Während hierzulande bald jedermann neben der eigenen Muttersprache Englisch versteht und z.B. in den USA, mit Ausnahme der Hispanos, ohnehin niemand eine andere Sprache spricht als die eigene, das «American English», gibt es eine andere Sprache, die schon wegen der cyrillischen Buchstaben nur von wenigen Leuten ausserhalb des Landes verstanden oder gar gesprochen wird: die russische Sprache. Das hat nicht zuletzt bei den Medien spürbare Folgen. In den USA zum Beispiel war Stephen F. Cohen, ein emeritierter Professor der New York University für Russistik, einer der wenigen Publizisten, die Russland wirklich kannten und verstanden. Er kam in der bekannten, aus europäischer Sicht linksliberal positionierten Zeitschrift «The Nation» auch zu Wort. Leider ist er ausgerechnet am gleichen Tag gestorben, an dem auch die linksliberale Supreme-Court-Richterin Joan Ruth Bader Ginsburg gestorben ist, am 18. September 2020. Also hat sich das ganze öffentliche Interesse auf die politischen Folgen des Todes der Supreme-Court-Richterin gestürzt, weil Noch-Präsident Donald Trump die Nachfolgerin bestimmen konnte – mit möglicherweise weitreichenden Folgen. Stephen F. Cohen dagegen blieb weitgehend übersehen und mit ihm ging auch viel Interesse unter, ein fernes und grosses Land und seine Bewohner auch wirklich zu verstehen: das «unbekannte» Russland. Immerhin widmeten ihm die New York Times und die Washington Post eingehende Nachrufe.
Eine neue bemerkenswerte Stimme aus den USA
Nur wenige US-amerikanische Publizisten kennen Russland und das, was man «die russische Seele» nennt, wirklich gut, und nur wenige kommen zu Wort. Einer, der sonst vor allem die militärischen Rüstungen anderer Länder beobachtet, Mark Episkopos, hat nun in der renommierten – politisch als «konservativ» eingestuften – Zeitschrift «The National Interest» auf etwas aufmerksam gemacht, das bisher wenig beachtet und bedacht wurde: Die vom Westen vor allem medial, mittlerweile aber auch finanziell unterstützten Aktionen von Alexej Nawalny könnten in Russland einen unerwarteten Effekt haben. Die Bedrohung Russlands «von aussen» könnte zu einer neuen Zustimmungs- und Sympathiewelle für den Kreml und für Wladimir Putin führen. Ins Deutsche übersetzt schreibt Episkopos (am 19. Januar): «Nawalnys Verhaftung könnte als weiterer Anstoss für ein neues US-Sanktionspaket gegen Moskau zu Beginn der Präsidentschaft von Joe Biden dienen, eine Massnahme, die im Senat stetige parteiübergreifende Unterstützung geniesst. Es könnte auch den laufenden amerikanischen Bemühungen Auftrieb verleihen, den Bau der Gaspipeline ‹Nord Stream 2› zwischen Russland und Deutschland zu stoppen, der schon jetzt mehr und mehr unsicher zu sein scheint. Offene westliche Drohungen in der Nawalny-Affäre könnten jedoch einen paradoxen Effekt auf die russische Zivilgesellschaft haben: Mit jeder weiteren Forderung aus Brüssel oder Washington wird (russische) Nachsicht gegenüber Nawalny mit der in Russland verachteten westlichen Appeasement-Politik verglichen. Das Ergebnis wäre dann eine Art negative Rückkoppelung, die das Entstehen einer lebendigen Oppositionskultur sogar behindert. [ … ] Sanktionen und andere Formen der Bestrafung Russlands, die erhebliche Kosten für das russische Prestige und mehr noch für die russische Wirtschaft mit sich bringen, scheinen das russische Volk in seinen Vorbehalten gegenüber dem Westen zu vereinen und Putins Entschlossenheit sogar zu stärken, unter Druck nicht zu kapitulieren. Traditionell gibt es in Russland nichts, was der Legitimität einer Regierung mehr schadet, als wenn sie Schwäche zeigt.»
Ein Blick zurück in die Geschichte bestätigt Episkopos‘ Prognose
Man erinnert sich: Als vor 80 Jahren, im Jahr 1941, Hitler seine Truppen in Russland einmarschieren liess, war in Russland Stalin am Ruder, ein Diktator, der nicht von allen Russen geliebt wurde. Trotzdem war die Bereitschaft der russischen Bevölkerung, sich gegen die in Aussicht stehende deutsche Fremdherrschaft zu wehren, unendlich gross. Und es waren ja dann auch tatsächlich die Truppen der damaligen Sowjetunion, die Hitlers Truppen in Stalingrad und Kursk militärisch besiegten – auch zur Freude der Allierten, notabene. Und wie sich westlicher Einfluss auswirken kann, haben die Russen auch in der Zeit des vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton moralisch und finanziell unterstützten Präsidenten Jeltsin eindrücklich erlebt: als Chaos, in dem die einen durch die Privatisierungen zu Milliardären wurden und die anderen nicht einmal ihre Renten erhielten – noch immer einer der Hauptgründe, warum die Russinnen und Russen in der Mehrzahl Putin nach wie vor unterstützen: Er sorgte nach den katastrophalen Jahren unter Jeltsin für Ordnung und dafür, dass die Menschen wenigstens wieder ihr Gehalt oder ihre Rente erhielten. Der Artikel von Mark Episkopos mit der Warnung vor unerwarteten Folgen der Nawalny-Unterstützung erschien am 19. Januar, noch vor den Demonstrationen am Samstag, 23. Januar. Danach, am 25. Januar, hat Episkopos nachgedoppelt und auf ein weiteres Phänomen aufmerksam gemacht: Der aktuelle Anlass der Verhaftung Nawalnys bei seiner Ankunft aus Deutschland am Flughafen brachte einfach alle Putin-Gegner auf die Strasse. Eine homogene Gesellschaft waren die Demonstranten allerdings überhaupt nicht. Episkopos: «Und dann sind da noch die Demonstranten selbst. Sie waren eine zufällige Koalition aus Liberalen, radikalen Sozialisten, Kommunisten und verschiedenen Schattierungen von Nationalisten, die weniger durch politische Zugehörigkeit zu Nawalny als eben durch ihre gemeinsame Opposition gegen den Kreml vereint waren. Ausserhalb Moskaus waren viele derjenigen, die am Samstag an den Demonstrationen teilnahmen, regionale Aktivisten, die gegen das protestierten, was sie als den fahrlässigen Umgang des Kremls mit Russlands fernöstlicher Peripherie ansehen. Viele andere waren Teenager und Schulkinder, die durch virale Posts in den sozialen Medien mitgerissen wurden. Die Demonstrationen umfassten einen breiten Ausschnitt der komplexen und amorphen russischen Oppositionskultur. Eines zumindest ist klar: Die Anti-Kreml-Demonstranten waren kein homogener ideologischer Block, sie haben politisch keine gemeinsamen Forderungen. [ … ] Einzelne Gruppen unterstützen nicht nur keine Pro-EU- oder Pro-NATO-Ansätze, viele von ihnen glauben sogar, dass Putins Politik dem Westen gegenüber zu entgegenkommend war – unter ihnen zum Beispiel die Kommunisten, die bei den Protesten prominent vertreten waren.»
«Schon gar keine nach westlichem Geschmack …»
Abschliessend meint Episkopos: «Die Proteste vom Samstag bestätigen, was schon seit den Protesten auf dem Bolotnaja-Platz im Jahr 2011 klar ist, als sich Nationalbolschewiken, Monarchisten, Kommunisten, Anarchisten, LGBT-Aktivisten, Separatisten aus dem Fernen Osten und eine Reihe selbsternannter Liberaler in einem behelfsmässigen Versuch zusammenschlossen, um Putin aus dem Kreml zu vertreiben. Es gibt keine singuläre ‹Opposition›, die von Washington unterstützt werden könnte, keine einheitliche alternative Ideologie, schon gar keine, die dem Westen schmackhaft wäre, um den derzeitigen russischen Staat und seine Institutionen zu ersetzen.» Mark Episkopos ist als US-amerikanischer Journalist im Spezialgebiet «Sicherheitspolitik» und als bezahlter Mitarbeiter der konservativen Zeitschrift «The National Interest» natürlich alles andere als ein Freund Russlands. Aber er nimmt sich wenigstens die Mühe, etwas genauer hinzuschauen. Politisch einfach auf die Person Nawalny zu setzen und ihn «moralisch» zu unterstützen, wie es die meisten grossen Medien im Westen gegenwärtig tun, oder ihn gar hochzujubeln, hält er für eine sehr gefährliche Politik.
Warum zeigen westliche Medien dieses Video nicht?
Im Moment wird Alexej Nawalny in den Medien vor allem als mutiger Held dargestellt. Warum wird nicht darüber berichtet, wie er sein «Putins Palast»-Video im Filmstudio «Black Forest» in Kirchzarten im Schwarzwald anfertigen liess, mit einem Auftrag aus den USA, wie es die lokale «Badische Zeitung» vor Ort und im Gespräch mit den Studiobesitzern nachrecherchierte? Oder warum zeigen westliche Medien das Video von Nawalny nicht, in dem er die Muslime aus dem Kaukasus als Kakerlaken bezeichnet und gegen deren Einwanderung den Einsatz einer Pistole empfiehlt? Hier kann es angeschaut werden.
Dr. Christian Müller
… war Chefredakteur und Redakteur diverser Schweizer Tages- und Wochenzeitungen. Er veröffentlichte zahlreiche Berichterstattungen, Kommentare und Kolumnen sowie Fotoreportagen aus Amerika (von Alaska bis Argentinien), Afrika, Australien/Neuseeland, China, u.a. Vom 1.1.2014 bis 31.12.2016 war er Chefredakteur der deutschen Viertelsjahreszeitschrift „Die Gazette„. Seit Anfang 2011 ist er Mitglied der Redaktionsleitung der Schweizer Informationsplattform Infosperber.ch.
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