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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Völkerrecht nach Belieben: Kosovo, Krim, Türkei – jetzt Niger

Viele Schlagzeilen: «ECOWAS plant militärisches Eingreifen in Niger». Doch niemand informiert, ob das völkerrechtlich erlaubt wäre.

26. August 2023

von Urs P. Gasche

Nach dem Militärputsch in Niger schweigen sich Politiker und Medien darüber aus, ob ein militärisches Eingreifen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft völkerrechtlich abgestützt und legitim wäre. Vor allem französische Medien befürworten ein Eingreifen. Die USA sind besorgt wegen ihrer dortigen Militärbasis. Niger ist zudem der siebtgrösste Produzent von Uran.

Offensichtlich wird das Völkerrecht à la carte beziehungsweise nach Belieben angerufen. Wenn die Türkei das Grenzgebiet in Syrien besetzt und de facto annektiert, kritisiert kaum jemand diese krasse Verletzung der UNO-Charta. Wenn Russland die Krim annektiert, wird ein Verstoss gegen das Völkerrecht sofort angezeigt.

Die Öffentlichkeit darf erwarten, dass Medien über sämtliche Verletzungen der UNO-Charta informieren – unabhängig davon, wer sie begeht.

Das jüngste Beispiel ist das 25-Millionen-Einwohner-Land Niger in der Sahelzone. Tagelang berichteten Medien von einem möglichen militärischen Eingreifen der ECOWAS-Staaten in Niger, um die dortigen Putschisten-Militärs zu stürzen und den gewählten Präsidenten wieder an die Macht zu bringen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt aber laut UNO-Charta das Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes. Die Nicht-Einmischung gilt als hohes völkerrechtliches Gebot und als wesentliche Voraussetzung für den Weltfrieden.

Eine militärische Einmischung in ein anderes Land kann im Ausnahmefall – etwas vereinfacht formuliert – nur die UNO aus humanitären oder friedensbedrohenden Gründen beschliessen.

Klartext und Differenzierungen von Völkerrechtlern

Infosperber hat einige Völkerrechtsprofessoren angefragt, wie es mit den Nicht-Einmischungsgebot in Niger steht.

Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg:

«Das Völkerrecht ist in dieser Frage vollkommen klar. Fehlt ein Mandat des UNO-Sicherheitsrats nach Artikeln 39/42 der UNO-Charta, ist ein Angriff auf die territoriale Souveränität eines fremden Staates völkerrechtswidrig. Das würde also auch für eventuelle militärische Angriffe auf Niger der ECOWAS gelten.

Einzige Ausnahme: Die ECOWAS könnte sich auf Bitten aus Niger um militärische Hilfe stützen, zum Beispiel durch den gefangenen Präsidenten und eine Mehrheit der Bevölkerung in Niger. Das ist derzeit wohl ziemlich schwer festzustellen. Ich sehe die Unterstützung der Bevölkerung mehr auf der Seite der Putschisten.

Ich nehme aber an, dass sich ECOWAS im Falle einer Invasion darauf stützen und wahrscheinlich von Frankreich, USA und anderen Ländern unterstützt wird.» 

Rainer J. Schweizer, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität St. Gallen:

«Ein militärisches Eingreifen einiger Nachbarstaaten in Niger wäre nur zur Selbstverteidigung dieser einzelnen Staaten oder nach einer Anordnung des UN-Sicherheitsrates zulässig. Ein Regimewechsel ist noch kein Grund, bewaffnet in einem anderen Land einzugreifen. Auch humanitäre Gründe sind nicht sichtbar.»

Professor Sebastian M. Heselhaus, Professor für Völkerrecht an der Universität Luzern:

«Ich habe keine Zeit für eine Recherche der genauen Situation in Niger. Der Presse entnehme ich, dass der bisherige Präsident nicht zurückgetreten ist und ‹die Welt›, also auch andere Staaten um Hilfe gebeten hat. Sofern der bisherige Präsident weiterhin vertretungsbefugt ist, läge also keine verbotene militärische Einmischung vor, sondern eine Hilfeleistung auf Einladung. Wenn die Fakten so stimmen, was ich nicht beurteilen kann, würde das erklären, warum niemand die Rechtmässigkeit eines Einsatzes thematisiert: weil sie offensichtlich ist.»

Frage Infosperber:

Der Präsident in Niger wurde abgesetzt und hat keine Entscheidungsmacht mehr. Sie sagen, weil er nicht zurückgetreten ist, könne er eventuell um militärische Hilfe vom Ausland oder der ECOWAS-Staaten bitten, was dann völkerrechtskonform wäre (wie etwa Assads Einladung an Russland, ihn in Syrien zu helfen).
Hätte dann auch ein Saddam Hussein nach seinem Sturz völkerrechtskonform Russland um ein militärisches Eingreifen bitten können? 

Antwort Heselhaus:

«Das ist komplizierter, weil der UNO-Sicherheitsrat tätig geworden ist und damit (bestimmte) Massnahmen legitimiert (und legalisiert) hat.»

Infosperber:

Oder der illegal abgesetzte ukrainische Präsident Janukowitsch hätte im Jahr 2014 völkerrechtskonform von Russland militärische Hilfe anfordern können? 

Antwort Heselhaus:

«Die Regierungsbildung folgt innerstaatlichen Vorgaben. Sie könnte damals illegal gewesen sein (umstritten). In der Praxis muss sie aber im Kontakt nach aussen von den anderen Staaten politisch anerkannt werden. Völkerrechtlich (Recht!) ist die Anerkennung kein konstitutives Merkmal: Andere Staaten sollen nicht einem Staat die Legitimität einfach nach Gutdünken absprechen können. In der Praxis (Politik) ist sie aber gewichtig, wie etwa die Frage nach der politischen Anerkennung von Taiwan.»

Infosperber:

Gehört ein Putsch nicht in die Kategorie innerstaatlicher Angelegenheiten, in die sich Drittstaaten nicht einmischen dürfen (ausser – etwas vereinfacht formuliert – eine Einmischung wird von der UNO aus humanitären oder friedensbedrohenden Gründen beschlossen)?

Antwort Heselhaus:

«Hier sind eben internationales Recht und internationale Politik verzahnt. Rein formal liegt keine Einmischung vor, wenn intern die rechtliche Lage unklar ist und es um die gegenseitigen Beziehungen geht, denn das sind externe Angelegenheiten. Aber sie haben Auswirkungen auch im Inneren.»

Stefan Oeter, Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg:

«Eine militärische Intervention wäre grundsätzlich ein Verstoss gegen das Gewaltverbot und die zwei klassischen Ausnahmegründe – Ermächtigung nach Kapitel VII durch den Sicherheitsrat oder Selbstverteidigungsrecht – liegen nicht vor.

Im Falle der ECOWAS gibt es allerdings zwei Besonderheiten, die den Fall kompliziert werden lassen. Zum einen enthält das Vertragsregime der ECOWAS selbst eine Ermächtigung zum militärischen Eingreifen bei schwerwiegenden Verstössen gegen bestimmte Grundprinzipien der ECOWAS. Das ‹Protocol on Democracy and Good Governance› von 2001 hat ausdrückliche Standards der Demokratie und Good Governnance für die Mitgliedstaaten verpflichtend gemacht, mit Prinzipien der ‹rule of law with autonomy for parliament and the judiciary, free and fair elections and political participation, civilian supremacy over military forces, and civil liberties›. ECOWAS hat sich ausserdem in diesem Protokoll verpflichtet zu einer ‹zero tolerance for power obtained or maintained by unconstitutional means› (Article 1c). Prozedural unterlegt sind diese Verpflichtungen mit dem Mechanismus des ‹Protocol Relating to the Mechanism for Conflict Prevention› von 1999. In Reaktion auf die ad hoc-Interventionen der 1990er Jahre in Liberia, Sierra Leone, Guinea etc. wurde ein neugeschaffener ‹Mediation and Security Council› in diesem Protokoll mit der Befugnis ausgestattet, politische wie auch militärische Interventionen in Mitgliedstaaten durchzuführen in the ‹event of serious and massive violation of human rights and the rule of law› oder im Falle eines ‹overthrow or attempted overthrow of a democratically elected government›. 

Völkerrechtlich ist allerdings – im Blick auf den jus cogens-Charakter des Gewaltverbots [= Norm, von der nicht abgewichen werden darf] – umstritten, ob derartige Vorabermächtigungen zum Einsatz militärischer Gewalt überhaupt zulässig sind. […][i]

Sie sehen aus diesen Bemerkungen, dass die Bewertung nicht ganz einfach ist und mit guten Gründen unterschiedlich gesehen werden kann.»

Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich:

«Ihre Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Im Gegenteil, die Thematik ist anspruchsvoll. Man kann sie seriös nicht in ein paar Sätzen beantworten. Das Problem ist das Verhältnis zwischen UNO-System und regionaler Sicherheitsarchitektur.»


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FUSSNOTE
[i] Professor Stefan Oeter ergänzt: 
«Ähnlich umstritten ist der Rückgriff auf Kapitel VIII der UN-Charta, konkret Art. 53 UNC. Dieser gibt regionalen Organisationen kollektiver Sicherheit (unter die auch ECOWAS gezählt wird) eine Rolle im System internationaler Friedenswahrung, einschliesslich der Durchführung von Zwangsmassnahmen. Allerdings bindet Art. 53 Abs. 1 UN-Charta die Durchführung von Zwangsmassnahmen seitens regionaler Abmachungen ausdrücklich an eine vorherige Ermächtigung des Sicherheitsrates (die hier nicht vorliegt).
In der Praxis von SR und ECOWAS hat sich  im Laufe der Zeit eine deutlich verschobene Handhabung dieser Bestimmung herausgebildet, nämlich zunächst Intervention durch ECOWAS aufgrund eigener Beschlüsse, und erst im Nachgang Billigung dieser Intervention durch den Sicherheitsrat. Das ist ersichtlich am Wortlaut des Art. 53 UNC vorbei («Der Sicherheitsrat zieht, wo es angezeigt ist, solche regionale Abkommen oder Organe heran, um Zwangsmassnahmen unter seiner Autorität durchzuführen. Auf Grund regionaler Abkommen oder durch regionale Organe sollen jedoch keine Zwangsmaßnahmen ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat ergriffen werden»), aber zugleich ist man sich wohl einig, dass Art. 53 UNC letztlich eine Fehlkonstruktion ist und die geübte Praxis sinnvoller ist als das in der Bestimmung vorgesehene Prozedere. Man könnte dies als interpretative Fortentwicklung des Art. 53 UNC im Sinne einer ‹subsequent practice› deuten, allerdings mit dem Problem, dass hier ein entgegenstehender Wortlaut korrigiert wird, was eigentlich eine formelle Vertragsrevision erfordern würde.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Urs P. Gasche

ist Redakteur der Online-Zeitung Infosperber.ch. Der Infosperber konkurriert nicht mit großen Medienportalen, er ergänzt sie. Die Plattform hat sich als Ziel gesetzt, allein nach gesellschaftlicher oder politischer Relevanz zu gewichten. Der Infosperber sieht, was andere übersehen.

 

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