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Hinweis: Der nachfolgende Text erschien zunächst auf Infosperber.ch, einer Online-Zeitung aus der Schweiz. Auch Der-Demokratieblog bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum und unterstützt deshalb die Vielfalt alternativer Medien! Die Rechtschreibung dieses Artikels richtet sich nach der schweizerischen Schreibweise.

Gesundheit zuerst: Coronabewältigung soll(te) Vorbild sein

Allzu oft verhinderten wirtschaftliche Interessen wirksame Massnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Prävention. Jetzt nicht mehr.

01. Juni 2020

von Urs P. Gasche

Behörden und Parteien haben die öffentliche Gesundheit in den letzten Jahrzehnten noch nie so ernst genommen wie während der Corona-Pandemie. Bis vor kurzem haben sie wirtschaftliche Interessen meist höher gewichtet als den Gesundheitsschutz. Doch jetzt während der gegenwärtigen Coronakrise stiessen wissenschaftliche Experten bei der Politik auf so offene Ohren wie nie zuvor.

Konkret: Um einige tausend zusätzliche Todesfälle zu verhindern, nahm der Staat einen wochenlangen Stillstand der Wirtschaft in Kauf. Kitas, Schulen, Restaurants und sogar Pärke mussten schliessen. Die Behörden tolerieren eine zusätzliche Staatsverschuldung und damit eine schwere Hypothek für die Zukunft. Sie akzeptieren eine steigende Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung in Pflege- und Altersheimen. Während der Corona-Epidemie hatte der Schutz des Lebens Vorrang, obwohl das Risiko, vorzeitig zu sterben, grossmehrheitlich Vorerkrankte und Alte betrifft. Damit weniger Menschen an Covid-19 sterben, schmälerte die Regierung notrechtlich auch demokratische Freiheiten.

«Die Gesundheit muss immer ganz vorne stehen», beteuerte Deutschlands Innenminister Horst Seehofer. Der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset versicherte: «Oberstes Ziel ist der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Das schützt auch die Schwächsten

Diese Töne sind neu. Falls dieser Paradigmawechsel, den die Corona-Pandemie in der Gesundheitspolitik ausgelöst hat, konsequent weiterverfolgt wird, hat dies weitreichende und erfreuliche Konsequenzen überall dort, wo Todesfälle und schwere Erkrankungen vermieden werden können. Die Interessen der Wirtschaft haben sich unterzuordnen. Selbst dort, wo noch Zweifel über das Ausmass der Gesundheitsrisiken bestehen, haben Vorsicht und Vorbeugung künftig Vorrang – so wie das während der Corona-Epidemie der Fall war.

Bei Priorität der öffentlichen Gesunheit muss die Politik folgende neun Massnahmen durchsetzen:

1. Die Luftverschmutzung bekämpfen

Die Politiker dulden nicht mehr, dass gleich viel Feinstaub, Stickoxide oder Ozon wie bisher in die Luft gelangen und sich in den Lungen ablagern. In verkehrsreichen Quartieren schädigt der Feinstaub Jahr für Jahr nicht nur die Bronchien, sondern auch Hirn, Herz und Gefässe. Das führt zu vielen Spitaleinweisungen und vorzeitigen Todesfällen. In der Schweiz sterben jährlich – laut Bundesamt für Umwelt – immer noch fast 2’200 Menschen frühzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung. Dabei gehen rund 25’000 Lebensjahre verloren.

Laut einer im März 2019 publizierten Studie des deutschen Max-Planck-Instituts für Chemie kommt es wegen der Luftverschmutzung in der Schweiz sogar zu mehr als 8’500 vorzeitigen Todesfällen. In Deutschland schwanken die Schätzungen zwischen jährlich 49’000 (Bundesumweltamt) und 127’000 vorzeitigen Todesfällen (Max-Planck-Institut).

Nach der Coronakrise beschliessen der deutsche Bundestag und das Schweizer Parlament je mehrere Milliarden zur Senkung der Luftverschmutzung namentlich in Städten und erlassen strenge Vorschriften für Emissionen und Tempolimiten.

2. Ein längeres Leben für alle anstreben

Jene zehn Prozent der Bevölkerung, die ihr Leben als Reichste und materiell Privilegierteste verbringen können, leben im Durchschnitt ein ganzes Jahrzehnt länger als die zehn Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen und Vermögen. Seit der Coronakrise wird alles getan, damit Lebensjahre für alle Menschen nicht verloren gehen. Deshalb investieren die Staaten künftig in Mindestlöhne, ein Grundeinkommen, Krippen ab drei Jahren, in die bildungs- und sprachmässige Förderung und in sicherere Arbeitsplätze mit dem Ziel, dass auch die zehn Prozent Schwächsten der Bevölkerung mehr Lebensjahre geniessen können.

Bei Lebensmitteln schreibt die Politik das Ampelsystem vor, um auf einfache Art über gesunde und ungesunde Lebensmittel zu informieren. Nicht fehlen werden grosse Kampagnen, die zum häufigeren körperlichen Bewegen animieren. Dank diesen Massnahmen können tausende von vorzeitigen Todesfällen verhindert und enorm viele Lebensjahre gewonnen werden.

3. Die Erderwärmung begrenzen

Der Klimawandel bedroht nicht unmittelbar, aber mittelfristig die Lebenserwartung und Gesundheit unzähliger Menschen. Anders als bei der Gefährlichkeit des Coronavirus sind sich die Wissenschaftler ziemlich einig darüber, welche Folgen der menschliche Beitrag zur Erderwärmung hat. Die Parlamente beschliessen deshalb hohe Lenkungsabgaben auf CO2, ohne auf eine internationale Vereinbarung zu warten.

4. Hormonaktive Chemikalien verbieten

Hormonaktive Stoffe in Pestiziden, Kunststoffen, brandhemmenden Mitteln und vielen Kosmetika können nicht nur die männliche Fortpflanzungsfähigkeit vermindern, sondern führen auch zu Diabetes und Übergewicht, was wiederum tausende von vorzeitigen Todesfällen zur Folge hat. Das ergab eine Studie im «The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism».

Aufgrund jahrzehntelanger Forschung kamen die Forschenden 2015 zum Schluss, dass diese endokrinen Disruptoren in der EU zu gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgekosten von über 150 Milliarden Euro pro Jahr führen. Allein auf das Konto des Pestizideinsatzes gehen 120 Milliarden Euro, gefolgt von den Plastik-Chemikalien mit 26 Milliarden Euro und den Flammschutzmitteln mit 9 Milliarden Euro.

Konsequenterweise beschliessen die Parlamente ein rasches Verbot aller hormonaktiven Chemikalien überall dort, wo sie, wenn vielleicht auch teurer, ersetzbar sind. Die Chemiebranche erklärt nach der Coronakrise nicht mehr wie bisher, nationale Alleingänge seien «zu vermeiden», weil sonst «eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des Forschungs- und Produktionsstandortes» drohe, sondern sie akzeptiert strenge Auflagen zugunsten der öffentlichen Gesundheit.

Ohne grossen Aufwand weitere tausende vorzeitige Todsfälle vermeiden:

Einige Massnahmen zum Verhindern vorzeitiger Todesfälle und schwerer gesundheitlicher Schäden führen Regierungen und Parlamente sofort ein, weil sie praktisch nichts kosten und die Wirtschaft kaum beeinträchtigen:

5. Viele Todesfälle in Spitälern vermeiden

In der Schweiz kommt es nach Angaben des Bundesamts für Gesundheit jedes Jahr zu 2000 bis 3000 vermeidbaren Todesfällen und zu rund 60’000 vermeidbaren gesundheitlichen Schadensfällen in Spitälern. In Deutschland sind es fast zehnmal so viele. Die Behörden schreiben eine Risikokultur wie im Flugverkehr vor, um diese Todesfälle künftig zu vermeiden.

6. Verkehrsopfer reduzieren

Der Tod durch Raser ist mindestens so schlimm wie der Tod durch Corona. Die erlaubten Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen und Überlandstrassen werden gesenkt.

In der Schweiz kann man mit Tempobeschränkungen etwa 100, in Deutschland rund 1000 Todesfälle von meist jüngeren Menschen vermeiden und noch viel mehr Leute vor schweren Verletzungen schützen – jedes Jahr!

7. Tabakopfer vermeiden

16 Prozent aller 15-24-Jährigen sind als Passivraucher auch heute noch mindestens eine Stunde pro Tag dem Rauch anderer ausgesetzt. (Quelle: BfS)

Ein Drittel dieser Altersklasse raucht. Deshalb schränkt das Schweizer Parlament die Werbung für Tabakprodukte deutlich stärker ein als bisher und ratifiziert endlich als einer der letzten Staaten der Welt die WHO-Rahmenkonvention über Tabakprodukte.

8. Nächste grosse Grippewelle eindämmen

Die letzten grossen (Influenza-)Grippewellen forderten in der Schweiz im Winter 2014/2015 rund 2500 Todesopfer und in Deutschland im Winter 2017/2018 rund 25’000 vorzeitig Verstorbene.

Künftig hat das Vermeiden dieser Todesfälle Priorität. Sobald sich am Anfang eines Winters abzeichnet, dass eine ausserordentlich grosse Influenzawelle zu erwarten ist, werden alle Personen mit Influenza-Symptomen in Arztpraxen, Spitälern und Pflegeheimen auf Influenza getestet. Die Tagesschau und die Zeitungen verbreiten jeden Tag die Zahlen der neuen «Fälle» und der Verstorbenen. Fasnachts-, Fussball- und andere grosse Menschenansammlungen werden verboten. Es wird zu allgemeinem «Physical Distancing» aufgerufen. Mit diesen Massnahmen ist es möglich, bei einer grossen Grippewelle mindestens die Hälfte aller vorzeitigen Sterbefälle zu vermeiden. Schulen und Geschäfte können aber geöffnet bleiben.

9. Pestizide einschränken

Bei Erwachsenen und Kindern findet man im Urin bis zu 17 Rückstände von Pestiziden. Das ergab eine aktuelle Laboruntersuchung im Auftrag des «Gesundheitstipps». Die Parlamente setzen in ihren nächsten Sitzungen nun endlich um, was Ärzte, Konsumenten- und Umweltorganisationen schon lange fordern: einen Höchstwert für die Summe aller Pestizide in Nahrungsmitteln. Bisher gibt es nur Höchstwerte für jedes einzelne Pestizid. Deshalb dürfen Lebensmittel beliebig viele Pestizidrückstände enthalten, solange jedes einzelne seinen Grenzwert einhält. Rückstände mehrerer Pestizide addieren das Gesundheitsrisiko nicht nur, sondern sie multiplizieren es häufig.

Fazit:

Mit allen diesen Massnahmen würden Regierungen, Verwaltungen und Politiker den Tatbeweis antreten, dass die öffentliche Gesundheit tatsächlich höchste Priorität hat. Sie würden keine fragwürdigen Argumente wie Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsnachteile oder Arbeitsplätze mehr bemühen, sondern sich einsetzen für eine bestmögliche Gesundheit und ein längeres Leben möglichst vieler.

Zu befürchten ist allerdings, dass die neu gesetzte Priorität während der Coronakrise einmalig bleibt. So stellte Infosperber unter dem Titel «Notstand von Fall zu Fall» schon am 26. Februar ernüchtert fest: «Langfristigen Risiken begegnet die Politik zwar wortgewaltig, aber tatenlos, während sie bei kurzfristigen Gefahren sofort reagiert.»

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Infosperber-DOSSIER:

Coronavirus: Information statt Panik

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Urs P. Gasche

ist Redakteur der Online-Zeitung Infosperber.ch. Der Infosperber konkurriert nicht mit großen Medienportalen, er ergänzt sie. Die Plattform hat sich als Ziel gesetzt, allein nach gesellschaftlicher oder politischer Relevanz zu gewichten. Der Infosperber sieht, was andere übersehen.

 

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